"Türkei ist kein Rechtsstaat mehr"
8. Februar 2018Deutsche Welle: Frau Harms, was wollen Sie Herrn Erdogan mitteilen? Es ist ja nicht die erste Verurteilung der Vorgänge in der Türkei.
Rebecca Harms: Es ist wichtig, dass wir uns wieder damit befassen, denn die Lage wird immer schlechter. Der Rechtsstaat der Türkei, so wie wir ihn kannten, existiert eigentlich nicht mehr. Die Gewaltenteilung ist aufgehoben, es gibt keinen Respekt mehr vor den Menschenrechten. Man kann sagen, dass die innere Entwicklung in der Türkei seit dem Coup so schlecht geworden ist, dass der Weg der Türkei auch dadurch einfach wegführt von der Europäischen Union.
Deniz Yücel sitzt seit einem Jahr im Gefängnis, die türkischen Vertreter von Amnesty ebenfalls. Zigtausende von Politikern, Menschenrechtlern, Journalisten und Schriftstellern haben ihre Freiheit verloren. Was ist die Botschaft, nachdem Erdogan sich bisher nicht hat beeindrucken lassen?
Der Fall von Deniz Yücel, aber auch der des türkischen Cumhuriyet-Journalisten Ahmet Sik, des bekannten Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala, von Oppositionsführer Selahattin Demirtas oder Taner Kilic von Amnesty: Das sind alles spektakuläre Fälle, bei denen es großen Druck aus der internationalen Gemeinschaft gibt, besonders aus der EU, dass die Türkei die Leute freilässt - oder dass sie zumindest rechtstaatliche Verfahren führt. Und wir sehen in allen diesen Fällen, nicht nur bei Deniz, dass der Druck einfach abprallt.
Was nun endlich geklärt werden muss, ist, welche Instrumente die Europäische Union bereit ist anzufassen, um mehr Druck auf die Türkei auszuüben, um diejenigen, die sich eigentlich auf uns verlassen, aus dieser schlimmen Situation zu befreien.
Muss sich die bisherige weichgespülte Politik gegenüber Erdgan ändern, in der die EU ihn zwar kritisiert, aber gleichzeitig immer klar macht, dass sie ihn braucht?
Was krass und hart klingt, etwa die Forderung nach Ende der Beitrittsverhandlungen, das gehört meiner Meinung nach zu dem Wortgeklingel in der EU. Die Beitrittsverhandlungen werden seit Jahren nicht aktiv geführt. Die Drohung, sie abzubrechen, obwohl wir wissen, dass diese Türkei nie Mitglied werden könnte, schon wegen der europäischen Verträge - das bringt uns nicht weiter.
Ich glaube dass Präsident Erdogan auf das reagiert, was die Türkei in wirtschaftliche Schwierigkeiten bringen kann. Die gute Wirtschaftsentwicklung in der Türkei über einige Jahre hat seine Stärke begründet. Und deswegen muss die EU überlegen, ob sie ihre wirtschaftliche Macht jetzt gegenüber der Türkei einsetzen will.
Wenn Sie von wirtschaftlichen Maßnahmen sprechen, woran denken Sie dabei? An ein Einfrieren der Zollunion, einen Investitions-Stop?
Ich glaube, wenn wir über die Erweiterung der Zollunion sprechen, dann muss man ganz klar sagen: Die kann nur stattfinden, wenn die Türkei zur Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt, sonst nicht!
Was für eine Beziehung zu Erdogan ist überhaupt noch denkbar?
Wir müssten jedenfalls prüfen, wie eine positive Beziehung zu einer veränderten Türkei aussehen könnte. Präsident Macron hat vor kurzen bei Erdogans Besuch in Paris gesagt: Wir brauchen eine andere Form der Partnerschaft. Und das ist eine unbedingt notwendige Diskussion in der EU.
Es wird bei alledem nicht einfach sein, denen zu helfen, die jetzt in die Mühlen der Unrechtsjustiz geraten sind. Aber wenn wir die Idee einer guten Beziehung zur Türkei ganz aufgeben, werden wir auch mit Drohungen nicht in der Lage sein, Einfluss zu nehmen.
Die EU-Spitzen Jean-Claude Juncker und Donald Tusk haben Präsident Erdogan zu einem Gipfel Ende März eingeladen. Ist das ein richtiges Signal?
Wenn auf diesem Gipfel Klartext gesprochen wird, wenn die EU dann weiß, wie sie weiter ihm gegenüber handeln will, dann finde ich das richtig. Wenn das wieder nur ein Treffen ist, bei dem man die bekannten Problem umschleicht, dann halte ich davon nichts.
Rebecca Harms ist Türkei-Expertin und Berichterstatterin der Grünen im Europäischen Parlament zum Thema Menschenrechte.
Das Interview führte Barbara Wesel