Türkei: Druck auf Andersdenkende
3. Februar 2018In einer Sendung eines regierungsnahen TV-Senders sahen Moderatoren vergangene Woche vor laufender Kamera die Accounts von Prominenten in sozialen Netzwerken durch. Diejenigen, die zu der türkischen Militäroffensive im Norden Syriens nichts gepostet hatten, bezeichneten sie als "Berühmtheiten, die die Militäroperation von Afrin nicht unterstützen". Weitere Kritik ließ nicht lange auf sich warten.
In der Türkei geraten jetzt auch diejenigen unter Druck, die in den sozialen Medien generell auf politische Aussagen verzichten. So hatte die bekannte Schauspielerin Gupse Özay, die auf Twitter vor allem über Kulturthemen schreibt, nichts über Nordsyrien gepostet. Als sie jetzt spontan ihr Mitgefühl für die Opfer des Erdbebens in Alaska twitterte, wurde sie angegriffen: "Statt über Afrin zu schreiben, hat sie über Alaska getwittert."
"Wenn etwas Trauriges geschieht, poste ich normalerweise nichts, damit die Leute einmal durchatmen können. Aber in diesem Fall bin ich morgens aufgewacht und habe als erstes gelesen, dass tausende Menschen gestorben sind. Da habe ich natürlich etwas getwittert", verteidigte sich Özay. "Doch wir befinden uns in sensiblen Zeiten. Die Reaktionen sind berechtigt." Özay löschte ihren Tweet über Alaska.
"Andere wollen über das bestimmen, was wir schreiben"
Der Musiker Haluk Levent verbreitet über seinen Twitter-Account vor allem Informationen über die Hilfsorganisation AHBAP, deren Vorsitzender er ist. Als er auf Twitter sein Beileid für die in Afrin gefallenen türkischen Soldaten ausdrückte, sei er dafür kritisiert worden, dass er nichts zu den Toten der alliierten Freien Syrischen Armee geschrieben hätte, erzählt er. "Wir sind an einem Punkt angelangt, wo man für uns entscheiden will, was wir schreiben", so der Musiker.
Kürzlich sagte ein Radiomoderator: "Wer auch immer etwas gegen die Militäroperation sagt, egal, ob Journalist oder Abgeordneter - erschießt ihn!" Äußerungen wie diese machen deutlich, wie sich die Stimmung in der Gesellschaft entwickelt.
2008 veröffentlichte der Soziologe Tanıl Bora ein Buch mit dem Titel "Das Lynchregime in der Türkei". Sein Fazit: In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Tendenz, Andersdenkende zu kritisieren und zu unterdrücken, verstärkt. Im Dezember verabschiedete die Regierung das Notstandsdekret 696, wonach Zivilisten, die sich dem Militärputsch auch durch Anwendung von Gewalt entgegenstellten, unbehelligt bleiben. "Das ist, abgesehen von der juristischen Interpretation, eine gefährliche Entwicklung für die Gesellschaft. Das gibt den Menschen, die geneigt sind, so etwas zu tun, das Gefühl, 'gelassen' bleiben zu können", so Bora.
Absatz 121 des umstrittenen Dekrets sieht vor, dass "Menschen, die bei der Unterdrückung des Putschversuches am 15. Juli 2016, der terroristischen Taten und zusammenhängender Taten aktiv waren, unbestraft bleiben, unabhängig davon, ob sie offizielle Titel tragen oder Ämter bekleiden".
Ohne Meinungsfreiheit keine Demokratie
Die größte türkische Oppositionspartei CHP macht die Regierung für die zunehmend repressive Atmosphäre verantwortlich. So erklärte ihr Vorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu, dass Druck auf diejenigen ausgeübt werde, die über die Afrin-Operation eine andere Meinung äußern als die Regierung, und dass zunehmend diejenigen, die "Nein" zum Krieg sagen, festgenommen werden. "Wenn es in einem Land keine Meinungsfreiheit gibt, gibt es keine Demokratie", so Kılıçdaroğlu.
Tanıl Bora ist der Meinung, dass sich die Mentalität der Unterdrückung Andersdenkender nicht nur auf die Militäroperation in Afrin beschränkt, sondern sich auch im Alltag immer wieder zeigt. "Hierin liegt auch die Gefahr - in der Normalisierung. Sie führt dazu, dass fast ein Wettbewerb entsteht und es zu Steigerungen kommt".
Doch was steht hinter dieser Mentalität? Das Gefühl, dass die Regierung und die Machthaber hinter einem stehen? Die Überzeugung, man habe das Recht, sich in das Leben von anderen einzumischen, in das, was sie schreiben, was sie denken?
Was tun gegen die Gedankenkontrolleure?
"Zu wissen, dass die Machthabenden hinter einem stehen, ist, ganz unabhängig von der Strafe, ein wesentlicher Faktor", so Bora. Zudem warnt der Soziologe vor Verallgemeinerungen und pauschalisierenden Analysen. Die seien nicht weit entfernt von der Mentalität, die damit kritisiert werden soll.
Doch wie sollten diejenigen, die unter Druck stehen, reagieren? Tanıl Bora hat drei Empfehlungen: "Wissen, dass das die Gesellschaft davon entfernt, zivilisiert zu sein. Nicht zulassen, dass das normal wird. Und als erster einfacher Schritt: Auf keinen Fall die Sprache und Art der Gedankenkontrolleure übernehmen."