"CSU betreibt Stimmungsmache"
4. Januar 2014DW: Welche Bedeutung hat die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Europa?
Rebecca Harms: Es ist ein Grundprinzip, auf dem die Europäische Union basiert, dass die Bürger der Mitgliedsstaaten in allen Staaten der EU arbeiten können sollen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit bewirkt, dass sich die Lebensstandards auch für die Bürger der ärmeren Länder verbessern können.
Ist die Debatte um die sogenannte Armutszuwanderung eine deutsche Debatte?
Es ist doch offenkundig, dass die Debatte hierzulande aus parteipolitischen Interessen forciert wird. Durch die Überzeichnung von Problemen, die durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit drohen, wird die Erfahrung untergraben, dass sie allen EU-Bürgern nützt.
Erklärt sich die Angst vor Missbrauch der Sozialsysteme dadurch, dass das soziale Netz hier besonders engmaschig ist?
Deutschlands Sozialsystem funktioniert sicher besser als das in Rumänien oder Bulgarien, es ist aber mitnichten das einzige gut funktionierende innerhalb der EU. Missbrauch kann es überall geben und natürlich wird das nie einfach hingenommen. Es ist aber völlig falsch, aus machtpolitischem Kalkül zwei Nationen herauszugreifen und ihnen insgesamt Missbrauchsabsichten zu unterstellen. Davon abgesehen ist es, anders als jetzt von der CSU suggeriert wird, nicht so einfach, sich Sozialleistungen zu erschleichen.
Hat die deutsche Regierung, haben Bund, Länder und Kommunen versäumt, sich mit dem Thema früher zu befassen?
Einige Kommunen, zum Beispiel im Ruhrgebiet, beschäftigen sich schon seit längerem mit Fragen wie: Mit welchen Erwartungen kommen Zuwanderer in unsere Stadt? Welche Beratung brauchen sie? Mit welchen EU-Mitteln können solche Angebote gefördert werden? Sie diskutieren systematisch, wie Integration gelingen kann, wie Wohnungen zur Verfügung gestellt werden können. Bund und Länder - insbesondere Bayern - haben sich aber offenbar nicht vorbereitet. Offensichtlich ist ihnen Stimmenfang durch Stimmungsmache wichtiger als gute Arbeit.
Sehen Sie auch Versäumnisse auf EU-Ebene?
Wir müssen mehr gegen Armut tun und mehr Druck aufbauen, um die Perspektiven von Minderheiten und insgesamt die Lebensverhältnisse in Mitgliedsstaaten wie Rumänien oder Bulgarien zu verbessern. Solche Missstände stehen am Anfang von Armutszuwanderung. Ich kenne nur wenige, die ohne gute Gründe ihre Heimat und Familien verlassen.
In welche Richtung wird sich die Diskussion mit Blick auf die Europawahl im Mai entwickeln?
Für den Europa-Wahlkampf etwa der CSU könnte diese Angstmacherei vor europäischen Ideen ein Vorgeschmack sein.
Was halten Sie von dem Vorschlag Ihres Parlamentskollegen Elmar Brok (CDU), Fingerabdrücke von vermeintlichen Sozialbetrügern aus Osteuropa abzunehmen?
Mit diesem Vorschlag beteiligt sich Elmar Brok daran, die Bürger Rumäniens und Bulgariens an den Pranger zu stellen. Auch er suggeriert kriminelle Absichten. Gerade ein langjähriger Europapolitiker wie er, der an den Verhandlungen über den Beitritt dieser beiden Länder und zur Arbeitnehmerfreizügigkeit mitgewirkt hat, sollte sich zu dieser Verantwortung bekennen.
In welchen Bereichen sind osteuropäische EU-Bürger in Deutschland unverzichtbar?
Die Statistiken zeigen, dass Bulgaren und Rumänen zu jenen Europäern gehören, die in Deutschland sehr gut in den Arbeitsmarkt integriert sind. Sie sind - quer durch alle Berufsgruppen - keine Belastung für das Sozialsystem, im Gegenteil. Zudem sorgen die Osteuropäer insgesamt für eine unglaubliche Entlastung der Pflege- und Krankenkassen, weil sie in diesen Bereichen leider sehr oft für sehr viel weniger Geld arbeiten als deutsche Arbeitnehmer. Es sind auch sehr viele Deutsche, die davon legal und illegal gern profitieren.
Rebecca Harms ist Fraktionsvorsitzende der Europäischen Grünen im Europäischen Parlament. Bei der Europawahl im Mai möchte sie zum Spitzenduo der Europäischen Grünen gehören. Die Entscheidung darüber fällt Ende des Monats.
Das Gespräch führte Jennifer Fraczek.