Kommentar: Es geht um die Zukunft der EU
2. Januar 2014"Die Hunnen kommen!" Den Schlachtruf liest man mittlerweile nicht nur in britischen Medien, er ertönt auch an deutschen Stammtischen und sogar - politisch korrekt abgemildert - in Parteipapieren der Christlich-Sozialen Union (CSU) und der Alternative für Deutschland (AfD). Wir erleben gerade den Versuch, aus partei- und europapolitischen Überlegungen ein komplexes Problem auf einen einzigen Aspekt zu reduzieren - auf die Gefahr nämlich, der angeblich zu erwartende Zustrom von Migranten aus Bulgarien und Rumänien würde die Sozialsysteme belasten.
Doch die Realität ist viel komplizierter: Erstens handelt es sich um Bürger aus zwei unterschiedlichen EU-Staaten. Zweitens ist diese Gruppe nicht homogen: Manche kommen mit dem aufrichtigen Wunsch, Arbeit zu finden, andere aber haben es in der Tat auf das Kinder- und Arbeitslosengeld abgesehen. Und ein Teil dieser Menschen sind Roma - in Rumänien und Bulgarien leben Millionen von Roma, die meistens sehr arm sind und von der Mehrheitsbevölkerung äußerst schlecht behandelt werden. Drittens sind die Migranten unterschiedlich qualifiziert, es gibt unter ihnen sowohl Ärzte und Ingenieure als auch Menschen, die kaum lesen und schreiben können. Und viertens gibt es keine zuverlässigen Prognosen - weder über die Anzahl dieser Migranten noch über die zu erwartenden Vor- und Nachteile für den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme.
EU-Grundwerte und Nationalrecht
"Arbeitsmarkt" und "Sozialsysteme" sind die beiden Schlüsselbegriffe, um die sich die ganze Diskussion dreht. Diese Ebenen muss man klar trennen. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit aller EU-Bürger ist nämlich ein Grundwert der Gemeinschaft, an dem nicht gerüttelt werden darf. Die Sozialsysteme aber gehören zum Aufgabenbereich des Nationalrechts, und da gibt es tatsächlich unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten. Das bedeutet, dass sowohl Großbritannien als auch Deutschland oder andere EU-Länder durchaus Einschränkungen einführen können, die aber unter Umständen von dem jeweiligen Verfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof geprüft werden müssten.
Und selbst dann wären solche Einschränkungen ein falsches Signal. Denn auch bei dieser Debatte - genau wie bei der Diskussion um die Bankenrettung - geht es um nichts weniger als um die Zukunft der EU. Solidarität als Grundwert der EU ist beim Thema Migration noch mehr gefragt als bei der Bankenrettung, weil es sich hier nicht um marode Geldinstitute, sondern um Millionen EU-Bürger handelt. Und gerade weil die eigentliche Debatte die um die Zukunft der EU ist, braucht man keine faulen Kompromisse auf der Nationalebene, sondern eine echte Kontroverse über die Grundfrage: Brauchen wir mehr oder weniger Europa?
Die Karten auf den Tisch legen
Die Befürworter von "weniger Europa" haben sich mittlerweile klar positioniert. Die britische Regierung, aber auch unterschiedliche anti-europäische Parteien in den Mitgliedsländern bereiten sich auf die Europawahl im Mai vor, indem sie die in Krisenzeiten besonders starken Überfremdungsängste der Bürger schüren. Auch die CSU und die AfD in Deutschland setzen auf diese Strategie - was die etablierten Parteien angeht, steckt dahinter zugleich der Versuch, den rechtskonservativen Rand der Gesellschaft nicht alleine den Neulingen wie der AfD zu überlassen. Deswegen sollten die Befürworter von "mehr Europa" eindeutig Stellung beziehen - und so auch auf die EU-Wahl hinsteuern. Dadurch verlieren sie womöglich Stimmen. Und die Nationalisten aus ganz Europa werden im künftigen EU-Parlament stärker werden. Trotzdem ist dies aber eine gute Gelegenheit, die Karten auf den Tisch zu legen und endlich einmal die längst fällige Diskussion über ein föderales Europa ernsthaft zu beginnen. Ein Europa, in dem unter anderem die Sozialsysteme für alle da sind. Der richtige Ort für eine solche demokratische Diskussion wäre ein EU-Parlament mit mehr Macht und Selbstvertrauen. Und so könnten am Ende die Migranten aus Bulgarien und Rumänien trotz der aktuellen Aufregung zur Einigung Europas beitragen.