Im Gespräch mit Hans Neuenfels
11. August 2011Als einer der der umstrittensten und profiliertesten Theater- und Opernregisseure unserer Zeit hat Hans Neuenfels auf fast allen großen Bühnen im deutschsprachigen Raum inszeniert. Häufig lösten seine Aufführungen in der Öffentlichkeit Kontroversen aus, wie im Jahr 2006 bei seiner Version von Mozarts "Idomeneo", bei der islamistische Anschläge als Folge befürchtet wurden.
2010 inszenierte er bei den Bayreuther Festspielen Richard Wagners "Lohengrin", der jetzt bei den 100. Wagner-Festspielen seine Wiederaufnahme erlebte und am 14. August live auf dem Bayreuther Marktplatz, im Fernsehkanal Arte und weltweit per Livestream im Internet übertragen wird. Nicht das Mittelalter wird dort szenisch abgebildet, sondern ein Tierversuchslabor. Dabei treten Chor, Statisten und einige Solisten in Rattenkostümen auf. Ein Gespräch mit dem kritischen Freigeist.
Deutsche Welle: Es war ausgerechnet die Musik zu "Lohengrin", die den bayerischen König Ludwig II., aber auch Adolf Hitler besonders ansprach und nach eigenen Angaben inspirierte. Wenn Sie diese Musik hören, empfinden Sie dann eine Inspiration, die über das Normale hinaus geht?
Hans Neuenfels: Also ich bin dahinter gekommen, dass der Wagner eben dieses begriffliche Deutschland untersucht - mit seinem Patriotismus, mit seiner Gefahr der Denunziation, des Kleinkarierten, mit seiner Gefahr auch des Verengten, des nahezu hysterisch für manche Dinge zu Entflammenden. Als hervorragender Analytiker hat Wagner mit musikalischen Mitteln den Begriff "deutsch" zerfetzt und gleichzeitig in die Ironie geführt. Wenn es heißt "deutsches Land, deutsches Recht" und "deutsch und stark" und so weiter, dann ist es ja wohl die Aufgabe der Künstler in den jeweiligen Zeiten, dieses Bild ins rechte Licht zu rücken. Das haben wir versucht, indem wir dieses Rattennest erfanden. Es ist ja ein Unterschied, ob eine Ratte singt: "deutsches Land" und "sei stark", oder ob jemand in einer deutschen Tracht diesen Text singt.
Manchmal ist in Ihrer Inszenierung nicht klar, wer die sympathischeren sind: die Tiere oder die Menschen...
Es geht nicht so sehr um die Sympathie wie um die Fokussierung. Die meiste Aufmerksamkeit wird natürlich auf die Solisten gelenkt. Sie werden auch psychoanalytisch behandelt. Die Masse, das Kollektiv, der Chor, der die Ratten verkörpert: Hier zeigen wir das von Wagner gedachte Hin- und Herschwanken zwischen unentschiedenen Meinungen, instinkthaftem Agieren und getriebenen Empfindungen.
Die Hauptfigur Lohengrin ist ein Heilsbringer. Aber in der Geschichte der Menschheit führten vermeintliche Heilsbringer oft in die Katastrophe. Können Sie naiv oder wissend an die Möglichkeit eines Heilbringers in unserem Leben glauben, an einen Menschen oder eine Figur, die einfach eine Perspektive zeigt?
Ja, es gab ja Gandhi, Mutter Teresa und solche Menschen, es gab auch Einstein. Einige Menschen, auch Künstler, können gewissermaßen den Status eines Vorbilds erlangen. Sie beeindrucken durch ihre Würde und ihre Freiheit.
Aber ich denke, dass die verheerende Form des Alleinherrschers und des generellen Heilsbringers zumindest in Europa auf die Nullstufe gegangen ist. Ich glaube, dass das Heilen nur im Sinne der individuellen Berührung und nicht des Kollektivs funktioniert. Sobald es in das Kollektiv umschlägt, besteht immer die Gefahr, dass dort eine unkontrollierbare Massenbewegung ihren Lauf nimmt.
Es gibt Regisseure, die am Werk "Lohengrin" verzweifelten. Ihnen ist das nicht passiert. Trotzdem würde ich gern wissen, ob Sie stark mit dem Werk ringen mussten?
Mein Team und ich haben eine unglaublich intensive und sehr, sehr heftige, fast ekstatische Anfangsphase damit gehabt. Dann haben wir den Punkt erreicht, dass wir das Labor als szenische Lösung fanden. Das Ganze soll als Experiment zu erkennen sein. Dabei ist Lohengrin die letzte Kommunikationsinstanz. Er wird vom Gral geschickt, um noch einmal mit der sehr kranken Welt Kontakt aufzunehmen. Als wir diesen Punkt erreicht hatten, waren wir geistig und sinnlich über den Berg und konnten uns sehr befreit an die zahllosen Einzelheiten begeben. Wenn man Regie macht, geht man auf jeden Fall bis an die Grenze. Es ist fast unzumutbar. Und wenn man es dann geschafft hat, ist es herrlich und einmalig. Jeder soll sich mit einer Inszenierung an den Rand des Wahnsinns begeben. Dann kommt der Nächste.
Goethe sagte sinngemäß: In der Beschränkung liegt die Freiheit. Ist es für Sie als nachschaffender Künstler eher willkommen, sich an die Vorgaben zu halten, oder hemmt das die Kreativität?
Also mich haben die Fesseln - in Anführungszeichen - in der Oper eher befreit als eingeengt. Ich hoffe, dass die Versuche, jetzt speziell in Bayreuth, in einem sehr mutigen Sinne weitergehen und dass man den Abenteuerspielplatz, den Wagner den Nachfahren hinterlassen hat, auch dementsprechend ausnutzt.
Sehen Sie die Entwicklung bei den Bayreuther Festspielen immer stärker in Richtung Interpretation, hin zum Regietheater zum Beispiel?
Ja. Für mich ist der große Komponist Wagner einer der unerkanntesten. Nicht darin, was über ihn geschrieben oder was analysiert wurde, sondern was die Interpretation seiner Opern anbelangt. Anders als bei Mozart, Verdi, Rossini und andere, finde ich, dass er immer noch in einer gewissen Form hermetisch ist. Unsere Absicht war immer, keine Angst vor Wagner zu haben. Man soll ihn unmittelbar erleben. Wagner soll Spaß und Vergnügen machen. Die Stücke sind hier jahrzehntelang aufgeführt worden. Ein großer Teil der Zuschauer kennt sie mehr als auswendig. So kann man ohne Weiteres ungewöhnliche Nebenwege gehen.
Aber nicht im Sinne einer destruktiven Regie, die Musik nur als Material benutzt. Ich glaube, dass bei Wagner die Einheit von Handlung und Musik immer neu mit Werten belegt werden kann. Dabei muss sie aber immer als von Wagner vollendete Kunstform akzeptiert werden. Das ist Kunst. Und Kunst ist arrogant, Kunst ist elitär, und es gibt ganz wenige, die es können. Wagner konnte es. Und daraus ergibt sich logischerweise eine gewisse Demut bei der Interpretation. Wenn das Material, sei es in der Musik oder in den Texten, kaum noch zu erkennen ist, dann finde ich das ganz grässlich, widerlich und nicht nur destruktiv, sondern wahnsinnig arrogant und verräterisch.
Das Gespräch führte Rick Fulker
Redaktion: Suzanne Cords