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Halle: Online-Werkzeug gegen Rechtsextremismus

Ben Knight lh
19. Dezember 2020

Überlebende des Halle-Anschlags machen mit einer Website die Online-Spuren von Neonazis und ihren Anschlägen sichtbar. Denn während diese Plattformen wie Twitch nutzten, versäumten es Behörden, sie zu überwachen.

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Halle Saale | Gedenktafel Synagoge
Bild: Hans Pfeifer/DW

Vor mehr als einem Jahr, im August 2019, erschoss ein rechtsextremer Attentäter 23 Menschen in einem Supermarkt in El Paso, Texas. Kurz vor der Tat veröffentlichte er ein "Manifest" in dem Internetforum 8chan. Dort offenbarte er seinen Hass auf Immigranten und die hispanische Bevölkerung.

Am selben Tag meldete sich ein junger Mann im Osten Deutschlands bei der Onlineplattform Twitch an, einem Live-Streaming-Videoportal. Twitch wird  vor allem von Videospielern genutzt, die sich gegenseitig beim Spielen zuschauen. Nur zwei Monate später wird dieser junge Mann, der 27-Jährige Stephan B., auf dem Streaming-Portal live mit seiner Helmkamera filmen, wie er versucht in eine Synagoge in Halle einzudringen, um die 52 jüdischen Menschen darin zu ermorden.

So wie der El Paso-Attentäter lädt auch der junge Deutsche nur Minuten vor seiner Tat ein "Manifest" ins Netz. Das Attentat in Halle scheitert, vornehmlich an der verschlossenen Synagogentür – eine Sicherheitsmaßnahme, die für viele jüdische Gemeinden in Deutschland und auf der Welt nötig ist. Aus Wut und Frustration tötet Stephan B. daraufhin zwei nichtjüdische Deutsche.

Internationales Netzwerk von Rassisten und Frauenhassern

Die zwei rechtsextremen Attentäter kannten sich nicht persönlich, es gibt keine Hinweise darauf, dass sie direkt miteinander kommuniziert haben. Aber sie teilen dieselbe Ideologie – im Englischen wird diese häufig mit dem Begriff "White Supremacy" umschrieben. Sie umschreibt das rassistische Denken derjenigen, die eine Vorherrschaft von weißen Menschen anstreben und befürworten.

Die Attentäter aus Halle und El Paso haben noch eine weitere Gemeinsamkeit: sie besuchten dieselben Onlineforen. Häufig waren das sogenannte "Imageboards", eine Art des Internetforums, bei dem anonymisierte Bilder und Texte ausgetauscht werden. Ein globales Netzwerk aus jungen Männern ist in diesen Foren aktiv. Regelmäßig drücken sie hier ihre rassistischen und frauenfeindlichen Ansichten aus und nähren sich gegenseitig in ihrer Wut und Ablehnung der Gesellschaft.

Die zwei jungen Attentäter aus El Paso und Halle bewunderten außerdem beide den Massenmörder aus Christchurch, der nur wenige Monate zuvor, im März 2019, 51 Menschen in einer Moschee ermordete. Dieser Attentäter wiederum wurde unmittelbar inspiriert durch das Attentat in Norwegen, bei dem der Neonazi Anders Breivik im Jahr 2011 77 Menschen tötete.

Die Zahl der auf den ersten Blick nicht miteinander verbundenen Attentate geht manchmal in der Flut der Nachrichten unter: Allein in den zwei Monaten, die zwischen dem Attentat von El Paso und dem in Halle lagen, gab es zwei weitere Attentate junger Männer in Dayton, Ohio und Baerum, Norwegen. Sie kosteten zusammengenommen zehn Menschen das Leben. Und in Deutschland überschattete ein weiteres Attentat jenes in Halle. Im Februar diesen Jahres tötete ein Attentäter neun Menschen mit Migrationshintergrund bei Angriffen auf einen Kiosk und eine Shisha-Bar in Halle.

Verbindung zwischen Christchurch und Halle

Es bliebe der Zivilgesellschaft überlassen, eine Verbindung zwischen den Attentaten zu ziehen, sagt Talya Feldman, eine Kunststudentin aus Colorado, USA, die am Tag des Anschlags in der Hallenser Synagoge war. Deshalb haben Feldman und weitere Überlebende und Aktivisten, mit der Unterstützung der Anti-Rassismus-Organisation NSU Watch, ein Online-Projekt entwickelt. Auf der Website können Nutzer einen Zeitstrahl ansehen, der verdeutlicht, wie an einem Ort der Welt ein Attentat ausgeführt und an einem anderen bereits das nächste vorbereitet wurde.

Deutschland | Jahrestag Angriff auf Synagoge in Halle
Am Jahrestag des Halle-Anschlags gab es eine kleine Gedenkfeier für die OpferBild: Ben Knight/DW

Unter einem Banner mit der Aufschrift "Global White Supremacist Terror" können Wissenschaftler das Online-Tool nutzen, um eine Verbindungen zwischen den Attentaten zu untersuchen – allesamt ausgeführt von jungen, isolierten Männern mit einer gemeinsamen Ideologie innerhalb einer Internetgemeinschaft.

So wie bei anderen Onlinekulturen auch, geht es vor allem um Selbstdarstellung und darum, ein Publikum zu erreichen: es gibt gemeinsame Symbole und sogenannte Memes, potentielle Attentäter posieren mit Waffen und laden Manifeste hoch kurz vor ihren Taten. Die Pläne eines Angriffs werden gemeinsam mit "Zielen" hochgeladen, die an Ziele in Videospielen erinnern - in der Erwartung, dass andere den Erfolg und Misserfolg des Tötens bewerten.

"Diese Attentate resultieren aus einer Gemeinschaft, die auf Nachahmer ausgelegt ist. Es ist diese Meme-Kultur – du machst ein Foto und kopierst es immer wieder", sagt Feldman der DW. "Das ist es, was überall passiert". Das wurde auch am ersten Tag des Halle-Prozesses deutlich. Das Anmelden bei Twitch sei essenziell gewesen für seinen Plan, sagte der Attentäter vor Gericht – es sei das gewesen, worum es eigentlich ging. Er habe andere motivieren wollen, so wie der Christchurch-Attentäter ihn motiviert habe. Und er fügte hinzu: Twitch habe er ausgewählt, weil der Christchurch-Attentäter ihm gezeigt habe, dass Facebook den Livestream zu schnell wieder beenden würde.

Unwissen über Telegram, Twitch, Meguca

Doch Sicherheitsbehörden scheinen diese neuen Wege der Online-Kommunikation zu langsam zu erkennen und zu bekämpfen. In ihrem Schlusswort vor Gericht sprach Feldman, die auch als Nebenklägerin fungierte, den deutschen Behörden ein vernichtendes Urteil aus. Der Gerichtsprozess habe gezeigt, dass sowohl die deutschen Gerichte, als auch Polizei und Staatsanwaltschaft im besten Fall unwissend, im schlimmsten Fall desinteressiert daran seien, die globalen Hintergründe des Verbrechens zu erforschen.

Rassismus und Polizei

"Sie haben keine Verbindung mit Christchurch gesehen", sagt Feldman heute. "Es wurde deutlich, dass sie nicht sehr stark im Bereich Onlineradikalisierung ermittelt haben." Als Nebenklägerin hatte Feldmann Akteneinsicht und konnte vor Gericht die Aussagen der Polizeibeamten verfolgen. "Es gab Hinweise darauf, dass die Beamten sich nicht einmal das Imageboard angesehen haben, auf dem der Täter einen Link zu seinem Livestream gesetzt hat. Oder überhaupt eines der rechtsextremen Netzwerke, die den Link beispielsweise per Messenger-Dienst Telegram verteilten."

Kurz nach dem Attentat veröffentlichte das ZDF Recherchen, wonach die Polizei eine Woche gebraucht hat, um den Anbieter des Imageboards Meguca, auf dem Stephan B. einen Link zum Livestream geteilt hatte, nach IP-Adressen der Nutzer zu fragen, die sich das Video des Attentats angesehen hatten. Zu spät, denn die Adressen waren bereits vom System gelöscht worden.

Zuständigkeiten unklar

Als die Polizeibeamten dazu vor Gericht befragt wurden, sagten viele, es sei schlicht nicht ihre Aufgabe, die Hintergründe des Verbrechens zu untersuchen. Von einem juristischen Standpunkt aus gesehen, erscheint das legitim. Denn der Fall war klar: Es gab ein Geständnis und einen Mitschnitt der Tat – warum sollte man da noch tiefer graben und ermitteln? "Ich habe sie oft sagen hören: Es ist nicht meine Aufgabe, den Kontext zu verstehen", sagt Feldman. "Aber das bringt mich zu der Frage: Wessen Aufgabe ist es denn dann?"

Das ist eine relevante Frage, denn sowohl das Heimatschutz-Ministerium der Vereinigten Staaten (DHS), als auch der deutsche Verfassungsschutz stimmen in der Einschätzung überein, dass der Rechtsextremismus derzeit die größte inländische, terroristische Bedrohung in den jeweiligen Ländern darstellt. Laut eines Berichts der Nachrichtenagentur Reuters, hat ein DHS-Vermerk sogar festgehalten, dass von Menschen, die der "White Supremacy"-Ideologie anhängen und anderen Einzeltäter mit "personalisierten Ideologien" die größte Bedrohung für tödliche Gewalt in den USA ausginge.

Der Prozess gegen Stephan B. dauert bereits 25 Gerichtstage. Für den kommenden Montag wird das Urteil erwartet.