"Haiti ist heute besser aufgestellt"
8. September 2017Deutsche Welle: Hurrikan "Irma" hat in Haiti nach ersten Einschätzungen vermutlich weniger Zerstörung angerichtet, als zunächst befürchtet. Denn hätte der Sturm einen südlicheren Weg eingeschlagen, wäre die Situation womöglich so verheerend wie bei vergangenen Naturkatastrophen ausgefallen. 2010 starben in Haiti bei einem Erdbeben zwischen 250.000 und 300.000 Menschen, Hurrikan "Matthew" forderte vergangenes Jahr 1000 Todesopfer. Wie schätzen Sie das Ausmaß der Schäden dort diesmal ein?
Guenther: Das ist derzeit noch nicht vorherzusagen, da die Katastrophe noch nicht zu Ende ist. Wir erwarten starke Schäden im Nordwesten von Haiti, einem besonders strukturschwachen Gebiet. Es waren sehr starke Winde und Hochwasser zu beobachten. So ist zum Beispiel die 70 Jahre alte Grenzbrücke zwischen Haiti und der Dominikanischen Republik weggespült worden. Flüsse treten über die Ufer, es kommt zu Hangrutschen. Viele Menschen verlieren ihr Zuhause, weil ihre Häuser zerstört sind. Vor allem die Wassermassen sind kritisch. Diese Probleme treten zwar in der ganzen Region auf, aber in Haiti ist die Infrastruktur viel schwächer als zum Beispiel in der Dominikanischen Republik. Daher ist Haiti bei einem gleichen Wetterereignis immer viel stärker betroffen als die Nachbarländer.
Vor welchen Herausforderungen stehen die Katastrophenhelfer nun vor Ort?
Noch haben wir kein genaues Bild der Lage. Aber die Zugänge sind vermutlich schwierig, weil Brücken von Flüssen weggespült wurden und Straßen durch Überflutung oder umgestürzte Bäume unbefahrbar sind. Diese logistischen Probleme müssen erstmal gelöst werden. Aber wir sind auf die Situation in Haiti gut vorbereitet. Wir sind in dem betroffenen Gebiet im Norden bereits mit Helfern vor Ort, die sich auskennen. Sobald der Hurrikan weitergezogen ist, können sie sofort die nötigen Grunddaten erheben, um zu wissen, wo welche Hilfe nötig ist. Allerdings wissen wir aus Erfahrung, dass ein Hurrikan von einer Minute auf die andere seine Richtung ändern kann. Damit kann sich die Situation jederzeit sehr kurzfristig verbessern oder auch verschlechtern.
Wie sieht die Nothilfe dann konkret aus?
Bei solchen Überschwemmungen gehen oftmals sämtliche Brunnen kaputt und damit die ganze Trinkwasserversorgung. Das Erste ist, sauberes Trinkwasser bereitzustellen. Die Brunnen müssen ausgepumpt werden, damit es wieder sauberes Wasser gibt. Dann verteilen wir Lebensmittel. Anschließend folgen die Dinge, die Menschen brauchen, wenn sie alles verloren haben: Kochgeschirr, Decken und Planen, um sich notdürftig zu schützen. Zum Glück haben wir bereits vor dem Hurrikan gemeinsam mit dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen mehrere hundert Tonnen Lebensmittelvorräte in die Region gebracht, um eine Erstversorgung der Bevölkerung gewährleisten zu können. Wichtig ist auch, dass die Hilfsorganisationen eng zusammenarbeiten. Alle sind in Alarmbereitschaft versetzt.
Welche Vorkehrungen kann ein armes Land wie Haiti denn angesichts solcher Naturgewalten überhaupt treffen?
Das Problem in Haiti ist, dass das Land sowohl durch Hurrikans als auch durch Erdbeben gefährdet ist. Deshalb ist die Errichtung von speziellen Schutzräumen auch sehr teuer. Natürlich würden massive Steinhäuser helfen - aber die muss man erstmal bezahlen können! Auch in Haiti gibt es zwar inzwischen sogenannte Schutzräume wie Schulen. Aber die reichen bei weitem nicht aus. Katastrophenprävention ist in Haiti nach wie vor schwierig: Es fehlt nicht nur an Schutzräumen, auch die Frühwarnsysteme müssen ausgebaut werden. Zudem müssen mehr Lebensmittel, Medikamente und weitere Nothilfegüter bereitgestellt werden. Da hinkt Haiti im Vergleich mit seinen Nachbarländern in der Karibik noch hinterher. Aber die Haitianer sind deutlich besser aufgestellt als vor zehn Jahren noch.
Was hat sich denn Ihrer Meinung nach verändert im Vergleich zu früheren Katastrophen?
Die Strukturen sind besser als noch vor fünf Jahren. Und die Haitianer sind auf Naturkatastrophen besser vorbereitet. Inzwischen gibt es viele lokale Katastrophenschutz-Komitees. Dadurch können die Dorfbewohner selbst Soforthilfe leisten, wenn Hilfsorganisationen oder der Staat sie noch nicht erreichen können. Denn wenn ein Dorf wartet, bis Helfer von außen kommen, ist es möglicherweise schon zu spät. Wenn dort allerdings bereits Sägen, Äxte, Schaufeln und Spitzhacken vorhanden sind, können die Betroffenen selber aktiv werden, sobald Regen und Wind nachlassen. Es ist daher sehr wichtig, dass diese Katastrophenschutz-Komitees inzwischen aufgebaut wurden. Schon beim Hurrikan "Matthew" vor einem Jahr stellten wir fest, dass Haiti durch diese Komitees etwas besser aufgestellt ist als früher.
Was ist noch wichtig, um für Naturkatastrophen gewappnet zu sein?
Das wichtigste ist, genügend Geld für die Katastrophenprävention zur Verfügung zu stellen - auch durch Spenden. Problematisch ist, dass viele der Katastrophenschutz-Komitees von ausländischer Hilfe abhängig sind. Es wäre besser, der haitianische Staat würde dafür ein eigenes Budget vorhalten. Leider ist die ganze Katastrophenvorsorge in Haiti fremdfinanziert und damit eben anfällig. Zudem kann man sich nicht statisch auf Katastrophen vorbereiten. Auch wenn kein Notfall ist, müssen die Menschen üben. So wie ja auch die Feuerwehr in Deutschland regelmäßig trainiert, um im entscheidenden Moment einsatzbereit zu sein. Denn grundsätzlich nimmt die Gefahr eines Hurrikans in der Karibik zu: Es wird häufiger und auch stärkere Tropenstürme geben. Das ist eine traurige Problematik, mit der wir in den nächsten Jahren rechnen müssen.
Dirk Guenther ist Regionalkoordinator Karibik bei der Deutschen Welthungerhilfe in Bonn. Der Entwicklungshelfer hält sich seit 30 Jahren immer wieder in Haiti auf.
Das Interview führte Vera Kern.