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KonflikteHaiti

Haiti: Frankreichs historische Mitschuld

Lisa Louis
22. März 2024

Im ärmsten Land Lateinamerikas ist die Bandengewalt eskaliert. Die Gründe dafür liegen wohl nicht nur in Haitis Gegenwart. Auch die ehemalige Kolonialmacht Frankreich spielt eine Rolle.

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Ein Mann ist am rechten Bildrand als schwarze Silhouette vor weißem Rauch zu sehen, der durch eine Straße voller Müll zieht. Links fährt ein weiterer Mann auf dem Moped durch den Müll.
Bild: Guerinault Louis/Anadolu/picture alliance

Armut, politisches Chaos und eine hohe Kriminalitätsrate prägen das mittelamerikanische Haiti seit Jahrzehnten. Doch jetzt befindet sich der Inselstaat in einer regelrechten Gewaltspirale.

Am 29. Februar hatte Interims-Premierminister Ariel Henry Neuwahlen angekündigt - für August 2025. Weil Henrys Amtszeit eigentlich in diesem Februar enden sollte, verstanden gewalttätige Gangs die Ankündigung als Aufruf zum Angriff. Sie attackierten den Nationalpalast und Gefängnisse, wobei über 3000 Gefangene freikamen

Haitis Premierminister Ariel Henry spricht vor Studierenden an der United States International University (USIU) in der kenianischen Hauptstadt
Rückkehr vorerst unmöglich: Premier Henry wurde in Nairobi von den Unruhen auf Haiti überraschtBild: Andrew Kasuku/AP Photo/picture alliance

Nun kontrollieren die Banden große Teile der Hauptstadt. Zehntausende Bewohner sind aus Port-au-Prince geflohen. Henry, der gerade in Nairobi für eine kenianische Einsatzgruppe in Haiti warb, sitzt seitdem im US-Territorium Puerto Rico fest. Doch die Ursachen der aktuellen Krise liegen womöglich tiefer. Denn die ehemalige Kolonialmacht Frankreich trage eine historische Mitschuld, sagen Experten.

Der einzig erfolgreiche Sklavenaufstand

1804 schrieb Haiti Geschichte, weil es als erstes lateinamerikanisches Land die Unabhängigkeit erlangte - durch den einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand überhaupt. Frankreich stellte 1825 harte Bedingungen, um das Land als unabhängig anzuerkennen: Haiti sollte den ehemaligen Kolonialherren 150 Millionen Francs zahlen, etwa das Dreifache des damaligen haitianischen Bruttoinlandsproduktes. Zudem mussten Importzölle für französische Produkte halbiert werden.

"Die Sieger zahlten den Besiegten paradoxerweise Reparationen, auch aus Angst vor einer erneuten Militärinvasion", sagt Jean-Claude Bruffaerts der DW. Er ist einer der Autoren des Buches "Haiti - Frankreich. Die Ketten der Schulden".

Haitis doppelte Schulden

Um die Schulden zu begleichen, musste sich Haiti sogar Geld zu hohen Zinsen bei französischen Banken leihen. Ökonomen nennen das "Doppel-Schulden". Erst um 1950 herum hatte Haiti alle Verbindlichkeiten abgetragen.

Eine von Müll übersäte Straße in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince in einer Aufnahme von Juli 2021
Eine Straße in Port-au-Prince (Archiv)Bild: Ricardo Arduengo/REUTERS

"Dieses Geld fehlte für dringend benötigte Infrastruktur wie Straßen, Schulen und Krankenhäuser. Außerdem brauchte Haiti den Schutz durch eine Armee, was weiteres Geld verschlang. Das hat die Wirtschaftsentwicklung des Landes erheblich gebremst", erklärt Bruffaerts. Die fehlenden Investitionen in die Infrastruktur machen sich noch heute bemerkbar. "In vielen Teilen der Insel gibt es keine Straßen, die Gesundheitsversorgung ist mangelhaft, und ein Großteil der Schulen hat keinen Strom."

Sklaverei "schafft Nährboden für Instabilität"

Länder, die sich von der Sklaverei befreiten, hätten ohnehin Schwierigkeiten, sich als homogene Gesellschaft zu verstehen, meint Myriam Cottias. Sie ist Direktorin des Pariser Internationalen Forschungszentrums für Sklaverei und dessen Hinterlassenschaften. "Sklaverei schafft einen Nährboden für politische Instabilität, und die durch sie verursachte Spaltung der Gesellschaft verschwindet nicht einfach", sagt die Historikerin zu DW. "Auch in Haiti gibt es noch heute eine korrupte Elite und ein größtenteils sehr armes Volk."

Einfachste Gebäude schmiegen sich zwischen Bäumen an einen Hang
Eine Armensiedlung am Rande der Hauptstadt Port-au-PrinceBild: Rebecca Blackwell/AP/picture alliance

Jean Fritzner Étienne, Haitianer und auf die Kolonialzeit spezialisierter Historiker an der Universität Paris 8, fügt hinzu, dass Haitis Schulden die hierarchischen Machtstrukturen verfestigt hätten. "Dabei hatten sich die Haitianer von der Französischen Revolution inspirieren lassen, die 1789, also kurz vorher stattfand", wundert er sich gegenüber DW. "Nur haben die Franzosen die Prinzipien ihrer eigenen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschenrechte - nicht außerhalb der eigenen Grenzen angewandt."

Die USA hätten die Wahrnehmung Haitis als unterlegenes Land weiter verstärkt, meint Étienne. Sie besetzten die Insel von 1915 bis 1934. "Von 1957 bis 1986 unterstützten sie die brutale Diktatur von François und später Jean-Claude Duvalier, genannt 'Papa Doc' und 'Baby Doc'", sagt Étienne. "Und bis heute mischen sie sich in interne Angelegenheiten ein."

Erstattung "steht nicht zur Debatte"

Erst der ehemalige Präsident Jean-Bertrand Aristide verlangte im April 2003 von der französischen Regierung die Rückzahlung der einst Haiti auferlegten Schulden. Damals standen fast 22 Milliarden Dollar im Raum. Rund ein Jahr später wurde Aristide gestürzt, in einem von Frankreich und den USA organisierten Staatsstreich. Auf die Frage der DW, ob geplant sei, die Schulden zu erstatten, antwortete das französische Außenministerium jüngst in einer Pressekonferenz, dies stehe "aktuell nicht zur Debatte".

Haiti Proteste in Port-au-Prince
Jean-Bertrand Aristide ist für viele Haitianer - auch 20 Jahre nachdem er aus dem Amt geputscht wurde - ein HoffnungsträgerBild: Odelyn Joseph/AP Photo/picture alliance

Experten erwarten nicht, dass Frankreich das Geld zurückzahlt. "Keine ehemalige Kolonialmacht würde das machen. Es würde eine Kettenreaktion auslösen. Alle Ex-Kolonien würden dann Ansprüche erheben", sagt Laurent Giacobbi. Er ist Forscher für Geopolitik in Lateinamerika und der Karibik am Französischen Institut für Internationale und Strategische Fragen (Iris).

Haitianer sollen entscheiden, wie es weitergeht

Frédéric Thomas fordert dennoch einen neuen Denkansatz. Er ist Politologe und Spezialist für Haiti am unabhängigen Forschungszentrum Centre Tricontinental im belgischen Löwen. "Die ehemaligen Kolonialmächte haben noch immer eine koloniale Sichtweise auf Haiti", meint er im Gespräch mit der DW. "Man findet, das Land sei unregierbar und rechtfertigt so eine internationale Einmischung." Die internationale Gemeinschaft habe auch zur aktuellen Lage direkt beigetragen - und nach dem Mord an Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 den von Anfang an unbeliebten Henry unterstützt.

"Um den Teufelskreis der Gewalt und des Chaos zu unterbrechen, muss jetzt endlich die haitianische Bevölkerung entscheiden, wie es weitergeht", sagt Thomas. "Man sollte mithilfe der sogenannten Montana-Gruppe - mit Vertretern von Zivilgesellschaft, Kirche und Gewerkschaften - eine Übergangsregierung bilden und dann entscheiden, ob und wie man internationale Truppen im Land stationiert."

Ehemalige Schulden "sollte Frankreich in Infrastruktur investieren"

Die Montana-Gruppe könnte tatsächlich Mitglieder einer Übergangsregierung stellen. Das Komitee soll einen neuen Übergangspremierminister ernennen und Neuwahlen ausrufen. Wann genau diese Regierung zustande kommt, ist unklar. Erst danach will Henry offiziell zurücktreten.

Auch Autor Bruffaerts hofft, dass die internationale Gemeinschaft nun die Haitianer über ihre Zukunft entscheiden lassen wird. "Frankreich sollte zudem zumindest einen Teil des Geldes, welches Haiti ihr gezahlt hat, in Infrastruktur auf der Insel investieren", sagt er. Um Haiti zu helfen, sich endlich wirtschaftlich zu entwickeln.

Wie die Welt Haiti destabilisiert hat