Haiti: Wenn Gangs die Regierung ersetzen
15. März 2024"Anfang der Woche hatte sich die Lage etwas beruhigt", berichtet Antoine Jeune aus Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Er ist Landesbüroleiter der Diakonie Katastrophenhilfe, dem humanitären Hilfswerk der deutschen Evangelischen Kirchen. Die relative Ruhe hätten viele Menschen genutzt, um einige grundlegende Besorgungen zu erledigen. Doch inzwischen sei die Gewalt wieder aufgeflammt.
Am Donnerstag dann, drei Tage nach der Rücktrittserklärung von Interimspräsident Ariel Henry, zogen Berichten zufolge wieder bewaffnete Gruppen plündernd und brandschatzend durch Port-au-Prince. Sie steckten öffentliche und private Gebäude in Brand - darunter das Privathaus des Polizeichefs von Haiti und das Zentralgefängnis, aus dem Angreifer vergangene Woche mehrere Tausend Häftlinge befreit hatten.
Seit Anfang März überziehen bewaffnete Gruppen vor allem die Hauptstadt, in der etwa ein Viertel der elf Millionen Haitianer lebt, mit einer Welle der Gewalt. Prominentester Rädelsführer ist Jimmy Cherizier, Spitzname "Barbecue". Der ehemalige Polizist leitet die mächtige Bande G9, die aus einem Bündnis ehemals konkurrierender Banden hervorgegangen ist.
Wer regiert Haiti nach der Rücktrittserklärung des Präsidenten?
Ariel Henry hat seinen Rücktritt für den Fall erklärt, dass es gelingt, eine Übergangsregierung zu bilden. Allerdings kann er sein Amt derzeit ohnehin nicht ausüben: Zum einen befindet er sich nach einer Auslandsreise noch auf der Nachbarinsel Puerto Rico, weil die Rebellen seine Rückkehr durch Angriffe auf den Flughafen verhindern.
Zum anderen kontrollieren die Gangs Berichten zufolge mittlerweile 80 Prozent des haitianischen Territoriums. Seit die Regierung am 4. März den Ausnahmezustand über Port-au-Prince verhängt hat, sind Ministerien und andere staatliche Einrichtungen, von denen Regierungsgewalt ausgehen könnte, verwaist. Einzig Polizei und Militär versuchen noch, die Ordnung aufrechtzuhalten und die seit Donnerstag verhängte Ausgangssperre zu überwachen.
Doch allem Anschein nach sind die mächtigsten Männer in Haiti derzeit Gangsterbosse: Eine handlungsfähige, staatliche Autorität gebe es derzeit nicht, sagt Günther Maihold, Politikwissenschaftler am Lateinamerika-Institut der FU Berlin. "Die beiden dominierenden Gangs haben die faktische Gewalt über das Land."
Wer ist Barbecue und was will er?
Jimmy "Barbecue" Cherizier wurde Ende 2018 aus dem Polizeidienst entlassen, nachdem ihm die Beteiligung an mehreren tödlichen Gewaltexzessen vorgeworfen wurde. In den folgenden Jahren setzte er sich an die Spitze der bewaffneten Gruppe G9, mit vollem Namen "Revolutionäre Kräfte der G9 und Alliierte". Die hat sich nun offenbar mit ihren Erzfeinden der Gang "G-PEP" zu der Bewegung "Vivre Ensemble" (dt.: zusammen leben) vereint, um die Regierung des völlig verarmten Karibikstaates stürzen.
In verschiedenen Interviews hat sich Cherizier als Revolutionär stilisiert, der dem Land eine gerechtere Zukunft mit freier Bildung, Essen und Arbeit für alle verspricht. Tatsächlich sind die Gangs seit langem mit wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes verbandelt. Der Lateinamerikaexperte Maihold geht davon aus, dass sie versuchen werden, im Schulterschluss mit ihnen die Macht zu übernehmen. Dass "Barbecue", der sich mit ehemaligen karibischen Diktatoren wie Kubaner Fidel Castro und dem Haitianer Francois Duvalier vergleicht, das Wohl des Volkes im Sinn hat, glaubt er allerdings nicht: "Cherizier ist in eine Vielzahl illegaler Geschäfte verstrickt. Ich kann nicht erkennen, dass er sich nun plötzlich von einem Saulus zu einem Paulus, von einem Warlord zu einem Lord wandelt."
Wie geht es der haitianischen Bevölkerung?
Auch was Antoine Jeune von der Realität in Port-au-Prince berichtet, spricht dagegen, dass Cherizier humanitäre Absichten verfolgt: "Jedes Mal, wenn man das Haus verlässt, um zu arbeiten oder sich zu versorgen, geht man das Risiko ein, überfallen oder entführt zu werden oder in eine Schießerei zwischen der Polizei und den örtlichen Sicherheitskräften zu geraten."
Gleichzeitig hätten zwei von drei Haushalten Einkommenseinbußen durch die Unruhen, so Jeune, und die ohnehin unzureichende Versorgungslage verschlechtere sich weiter. Folglich stiegen die Lebensmittelpreise in für viele Menschen kaum bezahlbare Höhen. Einige Grundnahrungsmittel wie schwarze Bohnen seien gar nicht mehr verfügbar, weil Hafen und Flughafen in dem importabhängigen Land durch die Revolte blockiert sind.
Wie könnte es weitergehen in Haiti?
Die Vereinbarung zwischen Henry und den Oppositionsparteien sieht vor, dass eine Übergangsregierung die Ordnung im Land wiederherstellen und binnen eines halben Jahres Wahlen abhalten soll. So soll erstmals seit dem Mord an Präsident Jovenel Moise im Juli 2021 eine demokratische legitimierte Regierung an ihre Stelle treten.
Der Beschluss kam unter Vermittlung der Karibischen Gemeinschaft CARICOM zustande. Doch der Politologe Maihold hält das für ein allzu hehres Ziel: "Wie soll man unter solchen Umständen eine freie, faire und geheime Wahl abhalten? Selbst, wenn es eine zeitnahe Einigung gäbe, hängt doch alles von der Sicherheitslage ab."
Wie die Sicherheit im Land wiederhergestellt werden könnte, wissen auch die Experten nicht. Die Vereinten Nationen hatten bereits im Oktober eine Eingreiftruppe genehmigt. Allerdings sind Blauhelme in Haiti aufgrund schlechter Erfahrungen äußerst unbeliebt. Aber Kenia wollte in Absprache mit Interimspräsident Henry und mit Geld aus den USA 1000 Polizisten in den Karibikstaat entsenden. Doch das ist bisher an einem innerkenianischen Rechtsstreit und mangelnder Zustimmung für die Finanzierung im US-Kongress gescheitert. Dabei hätten die USA und Kanada ein Interesse an Stabilität in Haiti, um die Migration von dort zu verlangsamen und das Wachstum des dort ansässigen Drogenumschlags zu unterbinden.