Hadsch im Hochsommer
23. August 2018Es ist extrem heiß am Berg Rahma: 48 Grad. Dieses Jahr fällt die muslimische Wallfahrt in den Hochsommer. Am Weg zum zentralen Ort der Hadsch - gut 25 Kilometer südöstlich von Mekka - besprühen junge saudische Soldaten die Pilger mit kaltem Wasser und sorgen damit für eine kurze erfrischende Abkühlung. Freiwillige verteilen kleine Getränkeflaschen. Ältere Menschen, Frauen und Kinder werden stets bevorzugt. Ich möchte meine Flasche weitergeben, doch die Frau neben mir, aus Indien, lehnt ab. Sie deutet auf ihren großen goldfarbenen Wasserbehälter.
Viele haben Wasser dabei, um für die langen Wege unter der gleißenden Sonne vorbereitet zu sein. Zwischendurch kann einem mitten in der Menschenmasse aber auch der Sauerstoff knapp werden. Immer wieder versuche ich, mehr Luft zu schnappen, indem ich meinen Kopf nach oben hebe. Für diese Reise sind Gläubige aus aller Welt angereist. Manche Pilger haben ihr Leben lang gespart, um diese religiöse Pflicht erfüllen zu können.
Sie schlafen nachts auf dem warmen Boden, bedecken sich mit ihren dünnen, bunten Gebetsteppichen und sind auf die saudischen Essensboten angewiesen, die auf der Straße immer wieder kleine Portionen Reis mit Fleisch an die Pilger verteilen. Am "Tag von Arafa" ist die Zahl der Gläubigen an einem Ort am höchsten. Wegen des festen Datums dieser Wallfahrtsetappe treffen tatsächlich alle Pilger zusammen - in diesem Jahr sollen es 2,7 Millionen sein. Zu den anderen Wallfahrtsorten hingegen können die Gläubigen an verschiedenen Tagen kommen und damit zeitlich versetzt.
Hoffnung auf Sündenvergebung am "Tag von Arafa"
Der Besuch der gekennzeichneten Arafat Ebene mit dem Dschabal ar-Rahma als Zentrum ist obligatorisch, damit eine Hadsch gültig wird. Der Legende nach heißt der Platz am Fuße des Berges "Arafa", was so viel wie "Kennenlernen" bedeutet. Adam und Eva sollen sich hier wiedergetroffen haben, nachdem sie aus dem Paradies vertrieben wurden. An diesem Ort soll auch der Prophet Mohammed seine letzte Ansprache an die Muslime gehalten haben. In dieser Abschiedspredigt sprach er über die Gleichheit der Menschen, die Rechte der Frauen und die Hadsch.
Zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, also in einer relativ kleinen Zeitspanne und auf einer begrenzten Fläche von 78 Quadratkilometer treffen alle Pilger zusammen. Ich befinde mich mitten unter ihnen. Eine Gruppe indonesischer Männer und Frauen beten laut, sie halten sich an ihre langen, weißen Tücher fest, um einander in dem Gedränge nicht zu verlieren.
Am Berg angekommen, hebt eine Frau aus Ghana ihre Hände in die Höhe. Sie trägt ein gelbes Tuch mit der Aufschrift "Ghana Pilgrimage 2018". Tränen fließen über ihre Wangen. Auch einige Männer stehen voller Demut am Berg, schwitzend, betend und weinend. Laut Überlieferung vergibt Gott an diesem Tag vielen Menschen. Muslime glauben daran, dass eine Hadsch ein Neustart im Leben ist, dass hier alle Sünden vergeben werden. Entscheidend dafür ist dieses Stehen am "Berg der Barmherzigkeit". Ägyptische Pilger rufen im Chor: "Hier bin ich, oh Gott, hier bin ich!"
Kostenlose ärztliche Behandlung für jeden Pilger
Auch in Mekka selbst ist der Blick auf die Menschenmassen beeindruckend. Nach dem Gebetsruf strömen Millionen von Menschen in Richtung Heilige Moschee, in deren Innenhof die Kaaba steht: ein Würfel, bedeckt durch ein schwarzes, mit Gold besticktes Tuch. Dies ist das erste Gotteshaus der Muslime. Überall auf der Welt beten sie in Richtung der Kaaba.
Ganz Mekka, die heiligste Stadt der Muslime, befindet sich während der großen Pilgerfahrt im absoluten Ausnahmezustand. Ertönt der Gebetsruf, bevor die Menschen die Moschee erreicht haben, weiten sie ihre kleinen Reiseteppiche aus und beten in Scharen auf der Straße. Viele Notärzte, Polizisten, Soldaten, Putzkräfte und auch Pfadfinder sind an unterschiedlichen Stellen stationiert. Auch die Krankenhäuser in Mekka sind auf die große Anzahl der Wallfahrer vorbereitet. Ob eine Operation, ein Krankenhausaufenthalt oder auch Medikamente nötig sind, alles erhält der Pilger gratis.
Trotz des Massenandrangs bemüht sich das Sicherheitspersonal, den Strom der Menschen zu regeln und dabei nicht die Nerven zu verlieren. So versucht ein Ordner, einer kleinen Gruppe chinesischer Pilger zu erklären, dass sie an dieser Stelle nicht beten dürfen. Angesichts der Sprachbarriere keine leichte Aufgabe. Mit Geschick bugsiert er die Chinesen an die richtige Stelle.
Friedliches Umrunden der Kaaba
Aus der Vogelperspektive sieht es so aus, als würden die Massen die Kaaba reibungslos gegen den Uhrzeigersinn umrunden - bei der Tawaf, wie dieses Ritual heißt. Unten im Innenhof der Heiligen Moschee, zwischen all den Menschen, fällt es schwer, sich aufs Gebet zu konzentrieren. Man spürt die warmen Hände der Nachfolgenden auf dem Rücken und bekommt andauernd Tritte in die Hacken. Doch das scheint niemanden zu stören.
Die Muslime verstehen die Pilgerfahrt als einen Besuch bei Gott. Im Koran werden sie über den Propheten Ibrahim eingeladen und jetzt erfüllen sie ihre Pflicht, das Haus Gottes mindestens einmal im Leben zu besuchen. Dabei versuchen sie einander mit Respekt zu begegnen, friedlich zu marschieren und Konflikte zu vermeiden - was aber nicht immer klappt.
So müssen kurz vor den gemeinsamen Gebeten bestimmte Flächen geräumt werden. Zwei Frauen möchten ihren Platz dennoch nicht verlassen, werfen den Sicherheitsleuten Rassismus vor. Eine von ihnen behauptet, eine wichtige Persönlichkeit zu sein, und man könne mit ihr derart nicht umgehen. Der saudische Mitarbeiter erklärt ihr, dass dieser Weg frei sein muss. Es kommt zu einem Wortgefecht, das weitere zwanzig Minuten andauert. Bis endlich eine andere Pilgerin den streitlustigen Damen ihren Platz überlässt.
Sobald aber das gemeinsame Gebet beginnt, wird es absolut ruhig rund um die Kaaba. Die Gläubigen stellen sich in wenigen Sekunden in geordneten Reihen auf und beten Schulter an Schulter.
Hilfsbereitschaft statt Massenpanik
Nach dem letzten großen Unglück auf der Hadsch vor drei Jahren, bei dem mehr als 700 Menschen ums Leben kamen, hat sich am Sicherheitskonzept der saudischen Behörden viel geändert. Ein neues Notfallzentrum mit dem Namen "911" wurde mit viel Geld und Aufwand eingerichtet. Unter anderem werden von hier aus die Stadt Mekka und alle Wallfahrtsorte fast flächendeckend kameraüberwacht. Mit modernster Technologie sollen Gefahren frühzeitig erkannt und Einsatzkräfte schnell an den betroffenen Stellen koordiniert eingesetzt werden.
Dass vieles reibungslos abläuft liegt nicht zuletzt auch an den Pilgern selbst. Man greift sich unter die Arme, hilft einander und schaut auf den Anderen.
Die zwei Gesichter Mekkas
Unweit der Moschee befinden sich die Abraj-Al-Bait-Türme, auch bekannt als "Mecca Royal Clock Tower" - eine Hochhausgruppe mit Geschäften aber auch Sitz vieler bekannter Hotels. Eine ganz andere Welt: Während draußen viele Menschen ihr gesamtes Erspartes für diese Reise ausgeben und versuchen mit möglichst wenig auszukommen, shoppen andere Pilger im Einkaufszentrum und kaufen teilweise mehr, als sie tragen können.
Schon in der Frühzeit war Mekka ein Ort des Handels. Bei einer Fast-Food-Kette im Gastronomiebereich des Zentrums erinnert die Trennung nach Geschlechtern daran, dass Mekka ein Ort in Saudi-Arabien mit restriktiven gesellschaftlichen Vorschriften ist. Während Frauen und Männer beim Umrunden der Kaaba dicht gedrängt nebeneinander gehen, müssen sie sich hier getrennt anstellen.
Drei mit schwarzen Gewändern bekleidete Mädchen zwischen acht und zehn Jahren streifen zwischen den Besuchern umher und ziehen in Plastik eingepackte Gebetsketten aus ihren Umhängetaschen, um diese an die Pilger zu verkaufen - was eigentlich verboten ist. Währenddessen sammeln Pakistanis und Bengalen die Tabletts ein und putzen die Tische. Für viele Arbeitskräfte im Servicebereich ist die Hadsch-Zeit die wichtigste Saison des Jahres, da sie sich kleine Spenden erhoffen. Und tatsächlich sind auch immer wieder Pilger zu sehen, die Essenspakete, Geld oder Datteln an die Gastarbeiter verteilen.
Denn Ziel der Hadsch ist es, das eigene Leben zu reflektieren, schlechte Gewohnheiten abzulegen und mit einem besseren Charakter wieder nach Hause zu fahren.