Gute Nachbarn
2. April 2012Es waren die Gespenster der Vergangenheit, die Bundeskanzler Helmut Kohl und der tschechoslowakische Präsident Václav Havel am 27. Februar 1992 endgültig besiegen wollten. Gut zwei Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts machten sich Deutschland und sein südöstlicher Nachbar daran, die Beziehungen beider Staaten auf eine neue Grundlage zu stellen.
Kein Wunder, dass der "Vertrag über gute Nachbarschaft und freundliche Zusammenarbeit" vor allem die Zukunft thematisierte. Vergangenheitsfragen wurden übergangen und tauchten "nur ansatzweise" auf, fasst der tschechische Historiker Prof. Miloš Řezník von der Universität Chemnitz das Vertragswerk zusammen. Ein Bezug auf die Vergangenheit fand sich zum Beispiel in den Artikeln 20 und 21 - dort wurde sowohl "Angehörigen der deutschen Minderheit" in der Tschechisch-Slowakischen Föderativen Republik als auch "Personen tschechischer oder slowakischer Abstammung in der Bundesrepublik Deutschland" jeweils garantiert, "ihre ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität frei zu entfalten und ohne jegliche Diskriminierung und in voller Gleichheit vor dem Gesetz voll und wirksam auszuüben".
Unrechtstaten auf beiden Seiten
In den selbstverständlich klingenden Sätzen steckt erhebliche historische Brisanz: Mit dem "Münchner Abkommen" hatte Hitler 1938 die Zerschlagung des tschechoslowakischen Staates eingeleitet. Das "Sudetenland", dessen Bevölkerung überwiegend deutschsprachig war, wurde dem Deutschen Reich eingegliedert, ein Jahr später folgten Annektierung und Besetzung der "Rest-Tschechei". Die Nationalsozialisten begingen in der Folge Greueltaten an der jüdischen Bevölkerung. Nach dem Attentat eines tschechischen Widerstandskämpfers auf den Stellvertretenden Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich, zerstörten die Nazis 1942 in einer "Vergeltungsaktion" das tschechische Dorf Lidice und massakrierten die Einwohner.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde in die andere Richtung "vergolten". Der Zorn der Tschechen wandte sich nun gegen die deutsche Bevölkerungsminderheit - es kam auch hier zu Massakern mit tausenden Opfern. Rund drei Millionen Sudetendeutsche wurden zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen, ihr Besitz im Rahmen der sogenannten "Beneš-Dekrete" konfisziert.
Offene Wunden
Die Frage nach Schuld und Gegenschuld bleibt in den folgenden Jahrzehnten eine offene Wunde für das deutsch-tschechische Verhältnis: Während die Verbände der vertriebenen Sudetendeutschen, die auch einflussreiche Fürsprecher in den konservativen Parteien CDU und CSU hatten, eine Anerkennung und auch materielle Entschädigung für das erlittene Unrecht forderten, wollte Prag eine solche Entschädigung unter allen Umständen verhindern. Im Gegenteil: Die Regierung sah in den Ausschreitungen und der Vertreibung eine direkte Folge der deutschen Aggression und Besatzung.
Eine nicht nur historisch, sondern auch politisch und rechtlich heikle Ausgangslage also für einen Neuanfang der deutsch-tschechischen Beziehungen nach dem Kalten Krieg. Kohl und Havel sei 1992 letztlich gar nichts anderes übrig geblieben, als "zu diesen Fragen bedeutsam zu schweigen", glaubt der Völkerrechtsprofessor Christian Tomuschat von der Berliner Humboldt-Universität. Ein bilateraler Vertrag sei nämlich völkerrechtlich bindend, in einer solchen Form abgegebene Erklärungen haben unter Umständen äußerst weitreichende Folgen – auch in finanzieller Hinsicht.
Deutsch-tschechische Erklärung
Fünf Jahre später machten beide Seiten einen weiteren deutlichen Schritt aufeinander zu - mit der "Deutsch-tschechischen Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung". In dem am 21. Januar 1997 von Kanzler Kohl und Ministerpräsident Václav Klaus unterzeichneten und von den Parlamenten in Bonn und Prag gebilligten Dokument nehmen nun beide Seiten ausdrücklich auch zur gemeinsamen, tragischen Geschichte Stellung.
Die deutsche Seite bekennt sich zu der Verantwortung, die historische Entwicklung ausgelöst zu haben, die "nationalsozialistische Gewaltpolitik gegenüber dem tschechischen Volk" habe dazu beigetragen, "den Boden für Flucht, Vertreibung und zwangsweise Aussiedlung nach Kriegsende zu bereiten." Deutschland und Tschechien "bedauern" die jeweils begangenen Unrechtstaten. Dass die andere Seite eine "andere Rechtsauffassung" habe, wird ausdrücklich respektiert. Aber dann, am wichtigsten: "Beide Seiten erklären, dass sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden."
Schlussstrich unter die Vergangenheit?
Das kann man als Schlussstrich unter die Vergangenheit werten und auch als Verzicht von deutscher Seite aus, noch einmal gegen die Konfiszierung des sudetendeutschen Vermögens vorgehen zu wollen. Offiziell anerkannt hat die Bundesrepublik aber die Enteignung nicht, betont der Völkerrechtler Christian Tomuschat, weil sie sonst selbst gegenüber den Vertriebenen entschädigungspflichtig werden könnte. "Die Vertriebenen müssen einfach akzeptieren, dass dies nun langsam den Gang alles Menschlichen geht" und der Vergangenheit anheim falle - so sieht es der Völkerrechtler.
Auch in Tschechien gebe es übrigens bis heute noch vereinzelt die Versuchung, historische Ressentiments gegen Deutsche politisch zu instrumentalisieren, berichtet Miloš Řezník, aber das spiele längst keine so große Rolle mehr wie noch vor zehn Jahren. Řezník ist einer der drei Vorsitzenden der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission.
Er wirbt für einen neuen Blick auf die Geschichte beider Staaten: "Das bedeutet nicht unbedingt eine Abkehr von schwierigen Themen, nicht eine Abkehr von den Diskussionen über die historischen Traumata, die die Gesellschaften zum Teil noch bis heute bewegen können. Aber man sollte zeigen, dass es mehr gibt in in der Beziehungsgeschichte als die Traumata und Konflikte."