Über 90 Prozent für Baerbock und Habeck
16. November 2019War das jetzt eine Vorentscheidung darüber, wer grüner Kanzlerkandidat wird? Das hatten vor dem Parteitag der Grünen schon einige Medien spekuliert. Jetzt kommt Annalena Baerbock, Parteichefin seit Anfang 2018, bei ihrer Wiederwahl auf unfassbare 97,1 Prozent der Delegiertenstimmen, und Robert Habeck, ihr Kollege an der Parteispitze, auf 90,4 Prozent. Beides sehr gute Ergebnisse, aber hat Baerbock jetzt nicht doch deutlich die Nase vorn? Kein Wort von den beiden dazu, wie schon in all den erfolgreichen Monaten zuvor. Die Grünen wissen, sie müssen die Frage nach der Person, die sich als Kanzlerin oder Kanzler bewirbt, irgendwann mal beantworten, aber nicht jetzt.
Baerbock: Wir müssen jetzt handeln
Baerbock streichelt in ihrer Rede vor allem die Seele der Grünen-Partei, nennt die mittlerweile 94.000 Mitglieder ihr "großes Team". Sie fordert, auch auf Menschen zuzugehen, die nicht automatisch mit den Grünen sympathisieren. Und sie fordert, beim Klimaschutz endlich zu handeln: "Vor 40 Jahren haben die Grünen gesagt: Wir haben die Erde von unseren Kinder nur geborgt. Jetzt ist es Zeit, sie endlich zurückzugeben!" Habeck hatte den Delegierten schon am Freitag zugerufen: "Die Ära Merkel geht zu Ende, eine neue Zeit beginnt. Wir werben um Verantwortung dafür, diese neue Ära mit zu gestalten." Jetzt, am Samstag, sagt er: "Vielleicht sind wir vor 40 Jahren entstanden für diese jetzigen Zeiten. Wir sind keine Bürgerbewegung mehr, sondern eine politische Kraft, die für Zeiten wie diese gegründet wurde."
Harmonie bei den frühere Streithähnen
Habeck und Baerbock werden durch einen harmonischen, optimistischen Parteitag getragen. Ihre Wahlergebnisse sind ungewöhnlich gut, nach ihren Bewerbungsreden gibt es kaum Nachfragen von Seiten der Delegierten. Wenn so etwas früher bei anderen Parteien passierte, haben die Grünen stets das als Personenkult verteufelt. Aber die Zeiten haben sich geändert, Habeck und Baerbock stehen wie niemand sonst für das grüne Hoch. Seit sie an der Spitze stehen, feierte die Partei spektakuläre Erfolge bei den Landtagswahlen in Hessen und in Bayern und schaffte bei der Europawahl 20,5 Prozent. Bundesweite Umfragen sehen die Grünen seit Monaten bei Werten über 20 Prozent. Beide Parteichefs waren deshalb unangefochten, Gegenkandidaten gab es nicht.
Kretschmann: "Führen, nicht nur mitgestalten!"
Durch fast alle Reden auf diesem Parteitag, durch alle Gespräche auf den Gängen zieht sich diese Erzählung: Wir, die Grünen, sind jetzt die Mitte der Gesellschaft, stehen für Demokratie und eine offene Gesellschaft. Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident aus Baden-Württemberg, formuliert das so: "Die Anforderungen an uns sind groß, weil die Herausforderungen so gewaltig sind." Es gehe jetzt nicht nur darum, irgendwie mitzugestalten im Land, sondern die Richtung vorzugeben: "Das ist nicht nur die Rolle zu gestalten, sondern zu führen. Uns wählen nicht nur eingefleischte Ökos, sondern ganz normale Menschen, die Orientierung bei uns suchen."
Sieg bei der Wahl zum Oberbürgermeister in Hannover
Unterstrichen wird das durch spektakuläre Erfolge wie dem von Belit Onay, der zum neuen Oberbürgermeister von Hannover gewählt wurde am vergangenen Wochenende. In Bielefeld wird er euphorisch gefeiert von den Delegierten. Über den zunehmenden Rassismus und Antisemitismus wird auffallend wenig gesprochen auf dem Parteitag, die Grünen sehen sich sicher auf der Seite der Verteidiger von Toleranz und Vielfalt. Kretschmann nennt das Eintreten dafür eine Art von republikanischer Gesinnung: "In der Republik wird nicht gefragt, wo kommst du her, sondern wo willst du hin?"
Die Grünen im Sog von "fridays for future"
Natürlich sind die Grünen, deren Kernthema schon immer der Klimaschutz war, Profiteure des weltweiten Erfolgs der Bewegung "fridays for future". Das sieht auch Britta Haßelmann so, die Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion. Sie sagt im Gespräch mit der DW: "Vielleicht ist der Schwung, der Druck, der auf der Klimakrise lastet, auch nochmal ein Punkt, der uns beflügelt in der Frage der ökologischen Transformation." Anton Hofreiter, der Fraktionschef sagt der DW: "Wir bereiten uns insbesondere darauf vor, dass die Gesellschaft grundlegende Veränderungen braucht. Dazu gehört die sozial-ökologische Modernisierung unserer Wirtschaft. Dazu gehören soziale Aspekte wie die Erhöhung des Mindestlohns."
12 Euro Mindestlohn
Den Mindestlohn wollen die Grünen von derzeit etwas über 9 Euro auf 12 Euro erhöhen, neue Schulden wollen sie machen für Investitionen in Infrastruktur und Bildung. Das sind die Kernaussagen des neuen Wirtschaftsprogramms. Aber dazu gehört auch ein klares Bekenntnis zum freien Markt, wirtschaftsfeindliche Töne wie früher gibt es bei den Grünen kaum. Britta Haßelmann sagt: "Es ist klar: Wir sind eingebettet in der sozialen Marktwirtschaft, nicht einfach nur im Markt. Der braucht seine Leitplanken, und dafür schlagen wir den Green New Deal vor."
Vor allem aber ist dieser Parteitag eine Bestärkung der Parteispitze, denen die fast 800 Delegierten jetzt endgültig das Unmögliche zutrauen: Den Griff nach der Macht, vielleicht sogar nach der Kanzlerschaft.