Nichts zu verlieren: Die Grünen im Osten
1. September 2019Eine Radtour durchs Naturschutzgebiet. Mehr Klischee lässt sich nicht in den Wahlkampftermin einer Ökopartei packen. An jenem verregneten Montag in Hoyerswerda wird aber geradelt, gerade weil man mit Klischees brechen will. Allen voran, ins Gespräch mit einem Wähler vertieft, radelt Robert Habeck.
Er ist einer von zwei Bundesvorsitzenden der Partei Bündnis 90/Die Grünen. Gemeinsam mit seiner Kollegin Annalena Baerbock tourt er, mal auf dem Fahrrad sitzend, mal auf dem Marktplatz stehend, durch die ostdeutschen Bundesländer Sachsen und Brandenburg.
Umfragen sehen Bündnis 90/Die Grünen bei über zehn Prozent
Dort werden am 1. September neue Landesparlamente gewählt. Sowohl in Sachsen als auch in Brandenburg holten die Grünen bei der letzten Wahl knapp sechs Prozent, Prognosen zufolge könnten sie das Ergebnis in beiden Bundesländern verdoppeln. "Anfang des Jahres haben alle noch gesagt: Jaja, gute Zustimmungswerte schön und gut, aber in Brandenburg und Sachsen gibt's was auf die Mütze", sagt Habeck der Deutschen Welle am Rande der Radtour. "Jetzt passiert vielleicht das Gegenteil."
Mit dem Klischee einer radelnden Ökopartei, die Wahlkampf als gemütlichen Ausflug versteht, hat die Partei des Vorsitzenden Habeck nichts mehr zu tun. Schon längst werden am Wahlkampfstand keine Sonnenblumen mehr verteilt, das Parteisymbol ragt stattdessen als poppiger Aufsteller neben Papphockern, auf denen das Publikum Platz nimmt, während sie dem Kandidaten in lockerer Atmosphäre Fragen stellen können. Der Zuspruch ist groß, in Dresden habe man bei einer Veranstaltung 200 Menschen wegen Überfüllung des Veranstaltungssaals wegschicken müssen.
Die Grünen stellen sich gegen die Rechtspopulisten
Das Klischee, gegen das er und seine Partei antreten, ist das von Ostdeutschland: Hier könnte die rechtspopulistische AfD erstmals zur stärksten Kraft in einem deutschen Landesparlament werden - in Brandenburg nämlich. Volksparteien wie die konservative CDU von Bundeskanzlerin Angela Merkel und die sozialdemokratische SPD erreichen hier immer weniger Wähler. Die Grünen wollen zeigen: Es geht hier nicht nur um das Erstarken der rechtsgerichteten AfD.
"Zapłata dyrbi wjetša być hač dźěra", steht auf einem Wahlplakat der Grünen, an dem Habeck bei seiner Tour durch die Lausitz vorbeiradelt. "Der Flicken muss größer sein als das Loch", steht klein darunter. Ein Sprichwort der Sorben, die in der sächsischen Grenzregion als anerkannte nationale Minderheit leben.
Die Grünen wollen antworten, nicht nur auf Klimafragen
Über dem Spruch ist ein Bild der Schwarzen Pumpe zu sehen, einem der letzten verbleibenden Braunkohlekraftwerke der Lausitz, direkt an der Landesgrenze der derzeit politisch umkämpften Bundesländer gelegen.
Allein in Brandenburg hängen noch 40.000 Beschäftigte direkt oder indirekt am Abbau und der Energiegewinnung durch Kohle. Was mit ihnen passieren soll, wenn Deutschland spätestens 2038 aus der Kohleindustrie aussteigen will, darauf haben die Regierungen in Berlin, Potsdam und Dresden den Menschen vor Ort bislang keine abschließende Antwort geben können.
"Die Leute sind auf der Suche", sagt Wolfram Günther, einer der zwei Grünen-Spitzenkandidaten für Sachsen. "Wir antworten auf die Fragen, die sie haben." Nicht nur zur Vereinbarkeit von Ökologie und der Sicherung von Arbeitsplätzen nach dem Kohleausstieg, sondern zu allem anderen auch: "Wir besetzen Positionen, die Parteien davor gehalten haben, die zur Selbstverständlichkeit dieser Republik gehörten", sagt Habeck. "Dass soziale Marktwirtschaft den Menschen dienen soll und nicht ein wildgewordener Kapitalismus herrscht. Dass Europa das Ziel deutscher Außenpolitik sein muss."
Die Grünen feiern die Wiedervereinigung in ihrem Namen
Dass ausgerechnet eine Öko-Partei in Ostdeutschland neben den Rechtspopulisten an Zuspruch gewinnt, gilt trotzdem als Sensation. Dabei ist der Erfolg der heutigen Grünen auch in dem Mauerfall vor 30 Jahren begründet. Ökologische Parteien gab es auf beiden Seiten der Mauer: im Westen die Grünen, im Osten das Bündnis 90.
Bei den ersten gemeinsamen Wahlen im wiedervereinten Deutschland 1990 scheitern die westdeutschen Grünen beim Einzug in den Bundestag, das Bündnis 90 schafft es ins Parlament. 1993 schließen sich beide Gruppen zur Partei Bündnis 90/ Die Grünen zusammen - und ehren ihre unterschiedliche Herkunft bis heute in ihrem Doppelnamen.
Der Erfolgskurs der Grünen in Ostdeutschland ist also nicht überraschend. In Thüringen regieren sie bereits seit fünf Jahren in einer Koalition geführt von der Partei die Linke und den Sozialdemokraten mit, in Sachsen-Anhalt sitzen sie mit der konservativen CDU und der SPD auf der Regierungsbank.
Die möglichen Wahlerfolge in Brandenburg und Sachsen könnten auch Rückenwind für die nächsten Bundestagswahlen bedeuten - und eine Rückkehr der Grünen in die Bundesregierung. Ob er sich vorstellen könne, dann als Kanzlerkandidat anzutreten? Darauf will Habeck seit Monaten keine eindeutige Antwort geben, ein bisschen weiter als sonst wagt er sich dann aber doch aus dem Fenster: "Die Frage ist statthaft", sagt er, "aber sie steht noch nicht an."
Mitarbeit: Michaela Küfner