Großbritannien im Brexit-Blues
11. Januar 2021Die kleine Szene im Fährhafen Hook of Holland erklärt mehr über den Brexit, als manche politische Stellungnahmen der vergangenen Monate. Ein Zollbeamter nimmt einem britischen Autofahrer ein mitgebrachtes Päckchen mit Schinkenbroten in Alufolie ab.
"Sie dürfen bestimmte Lebensmittel wie Fleisch, Obst, Gemüse, Fisch und solche Dinge nicht länger in die EU mitnehmen", erklärt er dem schockierten Mann. Ob er wenigstens die Butterbrote behalten dürfe, wenn er den Schinken runternehmen würde, fragt der Reisende. "Nein, alles wird konfisziert", sagt der Beamte. "Willkommen im Brexit, sorry..."
Unerwartete Folgen?
Seit vergangenem Wochenende sind die britischen Medien voll mit Berichten über die vermeintlich unerwarteten Folgen des Brexit-Abkommens. Die Daily Mail beklagt "Brexit-Bürokratie in den Häfen" und zeigt leere Supermarkt-Regale, in denen es an Salat, Blumenkohl oder Orangen fehle.
Aus Paris meldet die Kaufhauskette Marks&Spencer Probleme in ihrer Lebensmittelabteilung, weil sie die eigenen Produkte nicht mehr in die EU ausführen darf. Und Herstellerverbände ziehen durch britische Fernsehstudios und fordern Nachverhandlungen mit der EU.
Währenddessen warnt der zuständige Kabinettsminster Michael Gove, in den nächsten Wochen seien weitere "signifikante Störungen an den Grenzen" zu erwarten, weil dort mehr Lastwagen auf mehr Kontrollen stoßen würden.
Fährhäfen wie Calais verzeichneten seit dem Jahreswechsel nur 25 Prozent des üblichen Verkehrs. Sobald die Lagerhaltung aufgebraucht ist und Transporte wieder auf das übliche Niveau an der nordfranzösschen Küste ansteigen, wird es vermutlich mehr Probleme geben.
Speditionen stellen Dienste ein
Die französische Polizei warnte bereits, sie werde jetzt mit den Kontrollen ernst machen, es gebe keine Übergangszeit mehr. Der Fährbetreiber DFDS meldet schon jetzt große Zahlen von LKW, die wegen fehlender oder falscher Papiere zurückgehalten werden.
Der Paketdienstleister DPD hat bis Mitte der Woche seine Dienste für die EU eingestellt, um herauszufinden, wie er nach den neuen Regeln weiter arbeiten könne. Und manche Speditionen folgen dem Beispiel, weil ihre Fahrer dem zusätzlichen Aufwand und den Wartezeiten nicht gewachsen sind.
"Hurricane", ein auf E-Commerce spezialisiertes Unternehmen, erwartet, dass die Teilnehmer am Online-Handel erst in den nächsten Wochen verstehen würden, was der Brexit mit neuen Herkunftsregeln, der Verlagerung der Mehrwertsteuerabrechnung und anderen Hürden für sie bedeuten werde.
"Wir sehen in den ersten eineinhalb Wochen nur die Spitze des Eisberges", sagt "Hurricane"-Handelsexperte Martin Palmer. Betroffen sind besonders Firmen, die Großbritannien als Verteil-Basis für ihren Handel mit der EU nutzen.
Jeans aus Bangladesch etwa müssen bei der Einfuhr nach Großbritannien verzollt werden. Künftig fällt wegen der neuen Herkunftsregeln erneut Zoll an, wenn sie in die EU verkauft werden. Sie sind schließlich nicht zur Hälfte aus britischer Herstellung, wie die Regeln fordern.
Dieser Online-Verkauf von Mode oder Technikprodukten dürfte sich nicht mehr lohnen. Sogar die urbritische Kaufhauskette John Lewis hat ihren Versand in die EU zunächst stillgelegt. Ebenso das Traditionsunternehmen Fortnum & Mason in London mit seinen Tees und der berühmten Orangen-Marmelade.
Administrativer Albtraum
Vor Weihnachten hatte der oberste britische Steuerbeamte vor dem Unterhaus eingeräumt, er erwarte Zusatzkosten für die britische Wirtschaft von rund sieben Milliarden Pfund im Jahr. Eine Summe, die ungefähr dem britischen EU-Beitrag entspricht.
In jedem Fall müssten Zollerklärungen gemacht werden, wenn ein Land die Zollunion mit der EU verlasse. Hinzu kommen Erklärungen über die Herkunft der Produkte, Veterinärbescheinigungen, Zertifikate über Produktstandards und vieles mehr. Wirtschaftsverbände sprechen von einem logistischen, administrativen Albtraum.
"Dies ist der größte Wechsel in den Handelsbeziehungen zwischen Nachbarländern - und das innerhalb eines Tages", erklärt Handelsexperte David Henig vom UK Trade Forum. Einerseits habe die Regierung auf die Probleme nicht hingewiesen, andererseits aber hätten Wirtschaftsvertreter nicht verstanden, dass die EU die Grundlage ihres freien Handels mit Europa war.
"Es wird eine Anpassung geben", sagt Henig voraus. "Einige Exporte stoppen schon jetzt, bei manchen wird das wegen steigender Kosten und Verwaltungslasten später kommen. Eine wirtschaftliche Anpassung ist unausweichlich und Teile davon wird man erst in Jahren sehen", prophezeit er.
So werde die Autoindustrie erst aus Großbritannien abziehen, wenn die britische Produktion unwirtschaftlich geworden sei, nachdem sie ihre Investitionen im Vereinigten Königreich abgeschrieben habe. Henig erwartet, dass die Wellen der Brexit-Folgen fünf bis zehn Jahre in der britischen Wirtschaft zu spüren sein werden.
Wirtschaft will nachverhandeln
Die Regierung in London müsse auf jeden Fall Unternehmen besser helfen und mit der EU über vereinfachte Abläufe an den Grenzen verhandeln, fordert er. Das frisch unterschriebene Abkommen allerdings in seiner Substanz zu verändern, wie Wirtschaftsverbände jetzt fordern, hält Henig für ausgeschlossen. "Es war immer klar, dass es Riesenprobleme geben würde."
Bei einer ersten Aussprache im Europaparlament am Montag wurde klar, dass der Handelsvertrag mit Großbritannien jedenfalls nicht an der Ratfizierung scheitern wird. Man wolle die über 1200 Seiten Rechtstext gründlich lesen und sei zufrieden mit dem Abkommen, kündigte der Vorsitzende des Handelsausschusses, Bernd Lange, an.
Auch die EU-Kommission lobte die Ergebnisse für den Erhalt des Binnenmarkts, vor allem beim fairen Wettbewerb. Und Leon Delvaux von der Generaldirektion Handel wies noch einmal darauf hin: "Dies ist nur ein Freihandelsabkommen. Andere Angebote lagen auf dem Tisch. Aber die Briten haben sich für das am wenigsten ehrgeizige entschieden."