Griechenland: Rückkehr des Rechtsextremismus
15. Oktober 2021Die Bilder aus einer Berufsschule in Stavroupoli, einem Vorort von Thessaloniki, waren schockierend. Erst sah man schwarz gekleidete und vermummte Jugendliche mit Eisenstangen, Messern und Steinen, die andere Jugendliche attackierten. Die hatten vor der Schule Flugblätter gegen die Bildungspolitik der konservativen Regierung verteilt. Anschließend posierten die Vermummten auf dem Schulhof, die Arme ausgestreckt zum Nazi-Gruß.
Der gewalttätige Angriff vor der Schule in Stavroupoli ereignete sich am 27. September. Es war die erste derartige Aktion von potentiellen Nachfolgern der vor einem Jahr verbotenen griechischen Neonazi-Partei Goldene Morgenröte. Seitdem kommt es immer wieder zu solchen Vorfällen in Griechenland: In Ilioupoli, einem Vorort im Westen von Thessaloniki, wurden Mitglieder der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) am helllichten Tag mit Baseballschlägern und Eisenketten attackiert, vier von ihnen trugen Verletzungen davon.
In Evosmos, einem weiteren Vorort Thessalonikis, fand am 1. Oktober eine Neonazi-Parade statt, es kam zu Ausschreitungen. Auch im Athener Vorort Neo Irakleio schlugen Angreifer auf Flüchtlingshelfer der "Bewegung gegen Rassismus und die faschistische Gefahr" (Keerfa) ein.
Rekrutierort Schule
Die Ereignisse von Stavroupoli seien kein Blitz aus heiterem Himmel, sagt Konstantinos Tsiselikis, der Dekan der Universität Makedonia in Thessaloniki, der DW. Der Professor für Internationales Recht, Migration und Menschenrechte sieht in dem Nazi-Gruß auf dem Schulhof einen schweren Schlag gegen den demokratischen Charakter der Bildung. "Leider gibt es an vielen Schulen rechtsextreme Gruppen", so Tsiselikis zur DW. "Sie sind über das ganze Land verstreut, überwiegend in wirtschaftlich benachteiligten Gegenden, wo Neonazi-Gruppen leicht Teenager rekrutieren können. Noch schlimmer ist, dass manche Lehrer diese Rekrutierung tolerieren oder sogar fördern. Es ist ein Phänomen, das großer Aufmerksamkeit bedarf."
Vor zehn Jahren war der Großraum Athen die Hochburg des griechischen Rechtsextremismus. Die Schlägertrupps der Partei Goldene Morgenröte machten im Zentrum der griechischen Hauptstadt oder in den Arbeitervierteln von Piräus tagtäglich Jagd auf Migranten. Ab 2018 wurde dann die nordgriechische Metropole Thessaloniki zur Hochburg der Rechtsextremen - auch im Zuge der nationalistischen Proteste gegen eine Lösung des langjährigen politischen Konflikts mit dem Nachbarland Mazedonien durch das Prespa-Abkommen und gegen die Anerkennung des Staatsnamens Nordmazedonien.
Angst vor Unsicherheit
Tsiselikis betrachtet den Aktivismus der extremen Rechten in den Schulen mit großer Sorge: "Schüler mögen aufgrund ihres Alters flexibel und offen für verschiedene politische Ideologien sein. Doch wir müssen nach den tieferen Gründen suchen, um zu erklären, warum der Nationalsozialismus für einige Jugendliche eine gleichberechtigte Wahl unter mehreren anderen wurde", sagt der Professor. Die Vertrautheit mit der rechtsextremen Ideologie, die in Griechenland, aber auch europaweit durch den gemeinsamen politischen Diskurs und die Medien beobachtet werde, sei sicherlich eine der Ursachen. "Die extreme Rechte schürt die Angst vor Unsicherheit jeglicher Art, und diese Unsicherheit ist meiner Meinung nach die Quelle, aus der sie ihre Kraft schöpft", so Tsiselikis. Seiner Ansicht nach gibt es in Europa eine immer größere Toleranz gegenüber dem neuen Nationalsozialismus; das müsse ein Ende haben, fordert er.
Nach der Goldenen Morgenröte
Nach dem Verbot der Partei Goldene Morgenröte und der Verurteilung ihrer Führung zu Gefängnisstrafen im vergangenen Jahr erstarkt die extreme Rechte in der griechischen Gesellschaft nun wieder. Tsiselikis meint sogar, dass die Verurteilung der kriminellen Gruppierung um den Ex-Parteichef Nikolaos Michaloliakos den Weg für noch extremere Gruppen wie "Heiliges Korps" oder "Propatria" geebnet habe. "Die extreme Rechte hat mit der Verurteilung der Anführer der Goldenen Morgenröte zweifellos einen schweren Schlag erlitten, aber dieser Schlag hatte mit ihrer vorherigen Legalisierung im öffentlichen Raum zu tun", sagt er.
Nun, da die Neonazis nicht mehr im Parlament säßen, würden die kleineren Gruppen, die den demokratischen Pluralismus militant in Frage stellten, weiter radikalisiert. "Die Goldene Morgenröte wird es nach diesen Veränderungen sicherlich schwer haben zu überleben, während viele andere Formationen eine starke Position im öffentlichen Raum beanspruchen werden, sogar mit dem Ziel, eine neue politische Partei zu schaffen", meint Tsiselikis.
Ein schwieriger Spagat
Derzeit versucht die regierende konservative Nea Dimokratia einen schwierigen Spagat. Einerseits möchte sie moderate Mitte-Rechts- und sogar einige Mitte-Links-Unterstützer der Regierung unter Premierminister Kyriakos Mitsotakis nicht verschrecken. Andererseits geht sie auch auf Rechtsextreme zu. Bei der letzten Kabinettsumbildung Anfang September ernannte Mitsotakis den ehemaligen Rechtextremen Thanos Plevris zum Gesundheitsminister. Er ist nach Makis Voridis (Inneres) und Adonis Georgiadis (Entwicklung) mittlerweile der dritte Minister dieser Regierung mit rechtsextremem Hintergrund. Alle drei begannen ihre politische Karriere bei der rechtsextremen und nationalistischen Partei LAOS, und alle drei fungieren zusammen mit dem Migrationsminister Notis Mitarakis, ebenfalls ein rechter Hardliner, als Brücke zum rechtsextremen Milieu.
Eine neue Dimension von Impf-Protesten
Seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie beobachtet Konstantinos Tsiselikis, dass militante Rechtsextreme als Schallverstärker agieren und den jeweiligen Umständen entsprechend einen Pseudo-Widerstand gegen bestimmte staatliche Politiken vorschlagen. Im Fall des Impfstoffs nutzten sie die Unkenntnis und die Ängste eines großen Teils der Bevölkerung vor dem Coronavirus aus, so der Professor.
"Die Reaktion auf die Corona-Maßnahmen, etwa auf Impfflichten oder auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Einschränkungen für Ungeipmfte, nimmt die Dimension einer Widerstandsbewegung mit starker politischer Ausprägung an", sagt Tsiselikis. Den Führern rechtsextremer Gruppen gelinge es, dieser Reaktion das Banner der eigenen Gruppierung aufzupflanzen oder sie als Teil einer allgemeinen rechtsextremen Ideologie darzustellen. "Menschen, die diese Gesinnungsräume betreten, finden Schutz, Identität und Stimme", meint Tsiselikis. "Das ist ein gefährliches Modell, denn es kann leicht zu einem zentralen politischen Projekt werden, das die grundlegenden demokratischen Errungenschaften in Frage stellt."