Griechenland: "Nazis ins Gefängnis!"
7. Oktober 2020Fünfeinhalb Jahre hat Magda Fyssa auf diesen Tag gewartet. Fast 2000 Tage in tiefer Trauer, oft stummer und viel seltener lauter Wut; immer voller Hoffnung, dass die Gerechtigkeit siegen wird und voller Angst davor, dass die Mörder ihres Sohns, des Hip-Hop-Musikers und antifaschistischen Aktivisten Pavlos Fyssas, am Ende doch noch freigesprochen werden könnten. Mit Magda Fyssa bangten die pro-demokratischen Bürgerinnen und Bürger Griechenlands.
An diesem 7. Oktober 2020 wird nun endlich das Urteil im Strafprozess gegen die "Goldene Morgenröte" verkündet - jener Neonazi-Partei, die die drittstärkste Fraktion im griechischen Parlament stellte, bis sie bei den Wahlen 2019 alle Mandate verlor.
Die 68 angeklagten Parteimitglieder, unter ihnen Partei-"Führer" Nikos Michaloliakos, müssen sich in vier Anklagepunkten verantworten: dem Mord an dem damals 34-jährigen Pavlos Fyssas am 18. September 2013, dem versuchten Mord an kommunistischen Gewerkschaftlern und dem Gewerkschaftsvorsitzenden Sotiris Poulikogiannis im selben Monat, dem versuchten Mord am ägyptischen Fischer Abouzid Embarak in seiner Wohnung im Juni 2012 und zuletzt - als übergeordneter Anklagepunkt - Bildung und Betrieb einer kriminellen Vereinigung.
Viele in Griechenland nennen das Gerichtsverfahren - in Anlehnung an den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher der Nazis 1945/46 - "unseren Nürnberger Prozess": In den sozialen Medien und als gesprühte Parole an den Wänden vieler Gebäude sieht man seit Tagen vielerorts ihr Motto: "Sie sind nicht unschuldig: Nazis ins Gefängnis!"
Mauer der Demokratie
Vergangenen Samstag erschien die Tageszeitung "Efimerida ton Syntakton" (deutsch: Zeitung der Redakteure) mit einer Sensation auf Seite eins: Unter der Überschrift "Die Mauer der Demokratie" stand ein gemeinsamer Beitrag des aktuellen Premierministers des EU-Landes, Kyriakos Mitsotakis von der konservativen Nea Dimokratia (ND), und seiner Amtsvorgänger Alexis Tsipras von der linken Syriza und Antonis Samaras, ebenso ND, aber noch konservativer als Mitsotakis. Mitautoren sind die Vorsitzenden der anderen demokratischen Parteien Griechenlands. Der Text richtet sich gegen die Goldene Morgenröte, ihre Stoßtrupps und ihre Nazi-Ideologie.
Dass rechte und linke Spitzenpolitiker an einem Strang ziehen, ist sehr selten im politisch hoch polarisierten Griechenland. Offenbar befürchten die Demokraten, dass der Goldene Morgenröte-"Führer", die anderen Köpfe der Neonazi-Organisation und die Mitglieder der rechtsextremen Stoßtrupps am Ende freigesprochen werden könnten.
Prozess nach dem Strafrecht
Immerhin hatte die Athener Staatsanwältin in ihrem Vorschlag für das Urteil Ende 2019 erklärt, es läge kein ausreichender Beweis für Bildung und Betrieb einer verbrecherischen Organisation vor. Das würde bedeuten, dass nur derjenige Neofaschist, der Fyssas in der Nacht vom 17. zum 18. September 2013 mit drei Messerstiche getötet hat, ins Gefängnis wandern würde. Als Einzeltäter.
Denn im Prozess gegen die Goldene Morgenröte geht es nicht um Gesinnungen oder die Grenzen der freien Meinungsäußerung. Das Verfahren wird nach dem Strafgesetzbuch geführt, nicht nach dem Verfassungsrecht, das in vielen anderen Ländern das Verbot einer Organisation regelt, falls diese die demokratische Grundordnung bedroht.
Die verlorene Ehre der griechischen Polizei
Das Vertrauen der Menschen in Griechenland in die Gerichte des EU-Landes ist nicht unbegrenzt. Noch weniger trauen die Bürgerinnen und Bürger der Polizei, die bis zur Ermordung von Pavlos Fyssas die Stoßtrupps der Goldenen Morgenröte gewähren ließ. Unvergessen bleibt, dass die Sicherheitskräfte nicht eingriffen, als sich "fünfzig Leute mit Schlagstöcken in Richtung des Lokals Coralli" bewegten (so der Polizeifunk).
Dort stieß Georgios Roupakias, Mitglied des fünfköpfigen Führungsgremiums der Goldenen Morgenröte in der Stadt Nikaia, drei mal mit einem Messer zu, während andere Neonazis das Opfer zu Boden drückten. Die Polizei traf zu spät am Tatort ein - und nahm Roupakias nur deshalb fest, weil der sterbende Fyssas seinen Mörder noch identifizieren konnte. Weiteren Beteiligten erlaubten die Beamten, sich vom Tatort zu entfernen. Bezeichnend ist, was Roupakias bei seiner Festnahme der Polizei sagte: "Ich bin einer von euch. Ich bin von der Goldenen Morgenröte".
Ein Verbrechen zu viel
Offenbar musste mit Fyssas erst ein griechischer Staatsbürger sterben, bis die Behörden etwas gegen die Schläger der Goldenen Morgenröte unternahmen. Solange die Neonazis Migranten terrorisierten, griff die Polizei nicht ein. Sogar Medien zeigten Sympathien für die rechtsextremen Stoßtrupps: Die Spitze der Goldenen Morgenröte wurde ins Fernsehen eingeladen, als ob ihre Organisation eine ganz normale Partei wäre.
Mittlerweile ist die Goldene Morgenröte politisch bedeutungslos - auch wegen des Strafverfahrens. Sie ist nicht mehr im Parlament vertreten und erhält dementsprechend keine staatlichen Mittel mehr. Die bekanntesten Schläger haben "Führer" Michaloliakos den Rücken gekehrt und eigene Organisationen gegründet. Die meisten Politikwissenschaftler in Griechenland rechnen nicht mit einem Wiedererstarken der Rechtsextremisten - aber ihre Positionen sind immer noch präsent.
Die Positionen der Nazis bleiben
Militante Neonazis nahmen etwa 2018 an den Demonstrationen gegen das "Prespa-Abkommen" mit Nord-Mazedonien teil - zusammen mit bürgerlichen Rechten. In vielen Orten Griechenlands koordinieren Rechtsextreme weiter Aktionen gegen Flüchtlinge und Migranten sowie Anti-Corona-Demonstrationen. Und wieder guckt die Polizei meistens nur zu.
Trotzdem gibt es bisher keine neue Partei, die die Goldene Morgenröte im Parlament beerben könnte. Und wenn die Neonazis an diesem Mittwoch tatsächlich verurteilt werden, dürfte es sicherlich noch lange dauern, bis eine neue rechtsextreme Organisation erstarkt. Magda Fyssa könnte aufatmen.