Gotland: Eine Insel rüstet auf
2. Februar 2022Auf der schwedischen Urlaubsinsel Gotland ging es vor einigen Wochen wenig idyllisch zu: Panzer fuhren vor, Soldaten patrouillierten tagelang den Hafen. Schweden hat seine Militärpräsenz auf der Insel wieder erhöht. Für Anwohner Henrik Hellvard dürfte dieser Zustand nicht neu sein. Bei seinem Wehrdienst vor einigen Jahrzehnten lernte er, "den Feind" zu bekämpfen, wie er sagt. "Es waren immer die Russen", berichtet Hellvard der DW in einem Cafe in der Provinzhauptstadt Visby. "Wir hielten unsere Gewehre und sprachen über die Russen." Nun scheint es wieder soweit zu sein.
Es gab für Schweden schon immer guten Grund, die Verteidigung des geostrategisch wichtigen Gotlands zu üben: Wer die Ostseeinsel erobert, kontrolliert den Luftraum und den Zugang zum Meer nach Estland, Lettland und Litauen sowie nach Finnland. Die Insel erlebte deshalb militärisch gesehen seit Jahrzehnten eine wechselvolle Geschichte.
"Die Russen" haben nicht versucht, Gotland zu erobern (abgesehen von einer mehrwöchigen Besetzung Anfang des 19. Jahrhunderts). Im Gegenteil: Als der Kalte Krieg auftaute, schätzte die schwedische Regierung ihre Beziehungen zu Moskau als so solide ein, dass sie beschloss, die Insel vollständig abzurüsten. Bis 2005 gab es dort keine ständigen Militäreinheiten mehr.
Drei Jahre später griff Russland Georgien an. Niklas Granholm, Studiendirektor beim Schwedischen Forschungsinstitut der Verteidigung, meint, die Reaktion des Westens sei zu lau gewesen, um als Abschreckung zu dienen. "Die Alarmglocken schrillten", sagt er der DW, "aber wir haben auf 'Snooze' gedrückt und weitergeschlafen."
Erst 2016, zwei Jahre nachdem Moskau die ukrainische Halbinsel Krim im Schwarzen Meer illegal annektiert hatte, schickte die schwedische Regierung Truppen und Panzer zurück nach Gotland. "Dass Russland bereit ist, militärische Gewalt gegen seine kleineren Nachbarn einzusetzen, hat die Einschätzung hier verändert", erklärt Granholm. 2017 führte das skandinavische Land die Wehrpflicht wieder ein. 2019 stationierte es ein modernisiertes Boden-Luft-Raketenabwehrsystem auf Gotland.
"Bereit, Schweden zu verteidigen"
Noch deutlicher hat sich die Einschätzung geändert, seit Russland vor einigen Monaten damit begonnen hat, Truppen an seiner Grenze zur Ukraine aufzustellen. Russische Kriegsschiffe haben in der Ostsee Übungen abgehalten. Der schwedische Verteidigungsminister Peter Hultqvist sagt, ein Angriff auf sein Land sei nicht auszuschließen.
"Russland hat 100.000 Soldaten um die Ukraine herum. Auch in Belarus haben die Russen sofort vollen militärischen Zugang. Es gibt eine Historie hybrider Angriffe auf Litauen und Polen und wir hören eine sehr brutale Sprache aus dem Kreml", so Hultqvist. "Das hat also echte Auswirkungen auf die gesamte Sicherheitslage. Wir wollen jetzt sehr deutlich machen, dass wir bereit sind, Schweden zu verteidigen. Und deshalb tun wir auch, was wir auf der Insel Gotland tun."
Damit, seinen bündnisfreien Status zu ändern und der NATO beizutreten, hat Schweden es jedoch nicht eilig. Hultqvist selbst lehnt dies ab: Stockholm habe rund 20 Abkommen über die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich mit anderen Ländern einschließlich der USA geschlossen, verfüge über Sicherheitsgarantien innerhalb der Europäischen Union und unterhalte eine "sehr enge Beziehung" zum benachbarten Finnland.
"Wir haben uns auf eine Situation vorbereitet, in der wir Interoperabilität und die Möglichkeit zur Zusammenarbeit mit anderen Ländern benötigen", sagt Hultqvist der DW. "Und wenn in unserer Region etwas passiert, hat das Auswirkungen auf alle Länder hier und auch die NATO wird davon direkt betroffen sein. Also müssen wir die Situation gemeinsam bewältigen."
Gute Nachbarn nicht gut genug?
Allerdings kann das Land sich nicht darauf verlassen, dass die NATO aus Eigeninteresse für Schweden tätig wird, ist der Vorsitzende des parlamentarischen Verteidigungsausschusses, Pal Jonson, überzeugt.
"Wir können hoffen, davon ausgehen, uns wünschen, dass wir von der NATO unterstützt werden. Aber wir können es nicht wissen, bevor wir der Allianz beigetreten sind", sagt er der DW. "Wir können im Verteidigungsbereich zusammenarbeiten, aber das ist etwas qualitativ anderes, als NATO-Mitglied zu sein. Und das ist für Schweden entscheidend, weil sich unser Sicherheitsumfeld in den letzten Jahren stark verschlechtert hat."
Jonson verweist auf zunehmende Cyberangriffe, Desinformation, Propaganda und ausländische Direktinvestitionen in kritische Infrastrukturen als Beispiele für wachsende Bedrohungen. Seiner Meinung nach hat sich die Einstellung der schwedischen Öffentlichkeit gegenüber der NATO im Vergleich zu vor einigen Jahren "erheblich" geändert. "Heute unterstützt etwa ein Drittel die NATO-Mitgliedschaft, ein Drittel ist unentschlossen und ein Drittel dagegen", so der Politiker. Jonson setzt sich dafür ein, im schwedischen Parlament eine Mehrheit für einen Beitritt zu dem Sicherheitsbündnis zu zusammenzubekommen.
Granholm glaubt, wenn der russische Präsident Wladimir Putin irgendwelche überstürzten Schritte in der Ostsee unternehmen würde, "dann würden wir uns wohl sehr schnell um eine Mitgliedschaft bewerben, die Situation wäre dann eine andere".
Wie wird das enden?
Doch selbst der langjährige Russland-Beobachter Granholm wagt im Moment keine Vermutungen über die nächsten Schritte des Kremls. Es sei ein bisschen wie bei einer Mutprobe, bei der zwei Autos aufeinander zurasen und der verliert, der als erstes ausweicht. Einer der Fahrer - in diesem Fall Russland - habe gerade das Lenkrad aus dem Fenster geworfen, sagt Granholm. "Meiner Meinung nach steuern wir also leider auf einen Crash zu."
Auf die Frage, wie ein solcher "Crash" aussehen könnte, antwortet er: "Es ist unvorhersehbar. Wenn man einen Konflikt beginnt, ist alles möglich. Man kann nicht wirklich wissen, wie er endet."
Für Anwohner wie Henrik Hellvard bleibt die Situation besonders ungewiss. Er erzählt der DW, dass er nicht "besorgt" sei - auch wenn er die Lage jetzt etwas weniger optimistisch einschätzt als vor sechs Monaten, als er sich auf der Insel ein Haus kaufte. "Wir sind es nicht gewohnt, dass das Militär in Schweden so sichtbar ist", sagt er. Gleichzeitig sei das russische Schreckgespenst immer präsent gewesen. "Die Angst vor den Russen, die gab es schon, seit ich ein Kind war. Es ist also eigentlich nichts Neues."
Aus dem Englischen adaptiert von Ines Eisele.