goEast: Polnische Alpträume
27. April 2016Vielleicht war es Zufall, dass ausgerechnet Polen in diesem Jahr mit einer Vielzahl an Filmen und Veranstaltungen den Herzschlag des Festivals für den mittel- und osteuropäischen Film bestimmte.
Das lag zum einen an zwei großen Männern des polnischen Kinos. Polens berühmtester Regisseur Andrzej Wajda hatte vor kurzem seinen 90. Geburtstag gefeiert, Wiesbaden ehrte den Altmeister der polnischen Kinematografie mit einer Hommage.
Żuławskis "Nachtblende" mit Romy Schneider
Auch dem jüngeren Kollegen Andrzej Żuławski, im Februar im Alter von 75 Jahren gestorben, gedachte das Festival mit der Aufführung seines berühmten Films "Die Nachtblende". Im Mittelpunkt der diesjährigen Retrospektive stand mit Juliusz Machulski zudem ein Vertreter einer mittleren Generation polnischer Filmemacher.
Polnische Filme gehörten darüberhinaus zu den originellsten Beiträgen in den verschiedenen Programmsektionen des diesjährigen Festivals. Lassen sich diese neuen Produktionen auf einen Begriff bringen? "Polen ist ein zu großes Land, als man das sagen könnte", dämpfte Ewa Mazierska im Gespräch mit der Deutschen Welle die Erwartungen westlicher Beobachter nach knappen, übersichtlichen Kategorisierungen.
Viele Filme - viele Themen
Mazierska ist eine der besten Kennerinnen des polnischen und osteuropäischen Kinos und unterrichtet seit langem Filmgeschichte an einer Hochschule in Großbritannien. In diesem Jahr sitzt sie in der Jury des Festivals. Über die Filme, die sie in diesen Tagen zu bewerten hat, darf sie natürlich nicht mit der Presse reden. Wohl aber über das polnische Kino im Allgemeinen.
"Es gibt eine große Vielzahl an neuen polnischen Filmen mit zu unterschiedlichen Strömungen, als das man sagen könnte, es gäbe das eine große Thema", sagt Mazierska und fügt wenig später dann aber doch hinzu: "Die Geschichte ist ein sehr wichtiges Thema; das polnische Kino war immer schon bekannt für seine historischen Filme, speziell für die Filme über den Zweiten Weltkrieg."
Filme über den großen Krieg
Das polnische Kino sei schon sehr auf diese Jahre fokussiert, meint Mazierska, was nicht zuletzt auch an Wajda liege, "dem Kopf der polnischen Schule". Polnische Regisseure hätten oft das Leiden der Polen während des Zweiten Weltkriegs aufgegriffen. Natürlich sei es auch um die Hauptkonfliktlinien des Krieges gegangen, um Polen und Deutsche. "Und um das Leid der Juden", fügt Mazierska hinzu. Der Konflikt mit den Russen sei hingegen eher ein neueres Thema.
Mit Verblüffung sahen die Festivalbesucher in Wiesbaden den polnischen Wettbewerbsbeitrag "Sirenengesang" von Agnieszka Smoczynska: ein wüstes Trash-Horror-Musical mit blutsaugenden, singenden Meerjungfrauen. "Es hat bisher keine Horror-Musicals in Polen gegeben", stellte die Regisseurin ihren Film in Wiesbaden vor und verwies dabei verschmitzt auf den Einfluss des 1996 verstorbenen Regisseurs Krzysztof Kieślowski. Smoczynska überraschte damit das Publikum, gilt Kieślowski doch als einer der angesehensten Filmemacher des Kontinents (u.a. "Drei Farben: Blau" mit Juliette Binoche).
Eine wüste Filmorgie - als Reaktion auf grüblerisches Kunstkino
Wer "Sirenengesang" sah, dem wurde schnell klar, um was es der 1978 in Breslau geborenen Filmemacherin offenbar geht. "Sirenengesang" lässt alle Political Correctness, alle Genreregeln souverän hinter sich, verzichtet auf Moral und pfeift auf das grüblerisch-philosophisch angehauchte Kino Kieślowskis. Die beiden Rockgören aus dem Meer, die in "Sirenengesang" mit ihrer laut vorgetragenen Attitüde wie eine polnische Variante der russischen "Pussy Riot" wirken, symbolisieren eine Art Befreiungsschlag eines neuen (weiblichen) polnischen Kinos.
Ein Film wie "Sirenengesang" dürfte den Rechtskonservativen und neuen Patrioten in Polen, die jüngst mit Presse- und Justiz-"Reformen" in Europa für Schlagzeilen sorgten, ein Graus sein. Doch es ist wohl noch zu früh, um solche Filme als Reaktion auf den polnischen Ruck nach Rechts zu deuten. "Spielfilme können nicht so schnell auf die aktuelle Lage reagieren, höchstens Dokumentationen", meint Ewa Mazierska.
"Weniger politisches Kino"
Doch die Filmwissenschaftlerin sieht durchaus eine tiefgreifende Änderung im aktuellen Filmschaffen ihres Landes: "Ich glaube, polnische Filmemacher versuchen, weniger politisch zu sein." Sie glaube auch nicht daran, dass sich die aktuellen politischen Geschehnisse in den Filmen der kommenden Jahre stark niederschlagen werden: "Die Regierungen kommen und gehen, und wenn sie einen Film über die aktuelle Regierung machen und fertigstellen, ist der möglicherweise schon bei der Premiere wieder veraltet, weil eine andere Regierung dran ist."
Anknüpfungspunkte zwischen der älteren und der neuen Regie-Generation sieht Mazierska durchaus - und gibt ein Beispiel. So stehe der Film "Die rote Spinne" von Marcin Koszałka, im diesjährigen Wettbewerb von goEast zu sehen, in der filmischen Tradition eines Regisseurs wie Jerzy Skolimowski.
"Die rote Spinne" ragte aus dem diesjährigen Programm heraus. Zurecht verdiente sich der Film den Preis für die beste Regie. Koszałka blickt in das Jahr 1967, in Krakau herrschen eisige Wintertemperaturen. Die Stadt ist in Aufruhr: Ein Serienmörder treibt sein Unwesen. Ein junger Student kommt auf dessen Spur, geht jedoch nicht zur Polizei. Es beginnt eine irritierende Beziehung zwischen den beiden Männern - ein rätselhafter wie faszinierender Film.
Neue Bandbreite des polnischen Kinos
"Die rote Spinne", die sich an einen historischen Fall anlehnt, ist eine kraftvolle wie düstere Meditation über Gewalt, Verbrechen und Leidenschaft, herausragend gespielt und fotografiert. Ein meisterlicher Film, der - gemeinsam mit "Sirenengesang" - für die neue Bandbreite des aktuellen polnischen Filmschaffens steht.
Ewa Mazierska ist Mitautorin des soeben beim Schüren-Verlag erschienenen Buches "Nouvelle Vague Polonaise? - Auf der Suche nach einem flüchtigen Phänomen der Filmgeschichte", hrsg. von Margarete Wach und dem Deutschen Filminstitut Frankfurt, ISBN 978-3-89472-925-7.
Dem polnischen Kino widmet sich derzeit auch die 11. Ausgabe des Festivals "filmPOLSKA" in Berlin (20.4.-27.4.). Dort werden neue und alte Filme aus Polen gezeigt, eine Retrospektive wird dem Regisseur Jerzy Skolimowski ausgerichtet.