Das Rennen um die Berlinale-Bären
15. Februar 2013Es wird eine Berlinale der großen Frauenrollen. So hatte es Festival-Chef Dieter Kosslick im Vorfeld angekündigt. Natürlich trifft das zu, gibt es doch eine Handvoll Beiträge im Wettbewerb, die Frauen in den Mittelpunkt ihrer Filmerzählungen stellen. Ein anderer Trend fällt allerdings vielmehr ins Auge. 2013 ist die Berlinale der reduzierten Geschichten. Die Schauplätze der allermeisten Wettbewerbsfilme liegen weitab der Städte. Provinz in allen Facetten begegnet dem Zuschauer. Und mehr noch. Nicht wenige Filme beschränken sich auf wenige Schauplätze, lassen ihre Dramen hinter dicken Klostermauern spielen oder nur in einer einzigen Wohnung.
Intime Geschichten
Das größte Publikumsfestival der Welt (07.-17.02.2013) erzählt also vornehmlich Geschichten abseits der Metropolen der Welt. Es ist eine erstaunliche Auswahl, die das Team um Dieter Kosslick getroffen hat. Hinzu kommt noch, dass sich die allermeisten Filme auf nur wenige Protagonisten konzentrieren. Die Kameras heften sich auf die Fersen ihrer Protagonisten, bleiben immer ganz dicht dran. Psychologische Porträts, intensive Dramen, manchmal von quälender Langsamkeit - das ist das auffallendste Charakteristikum des bisherigen Wettbewerbs.
Im polnischen Film "In the Name of" kämpft ein Pfarrer in einem kleinen Nest in der Provinz mit den Nöten des Alltags und seiner Einstellung zur Sexualität. Die beiden französischen Filme "Die Nonne" und "Camille Claudel 1915" verlegen den Ort ihrer Handlung in ein Kloster. Sowohl der amerikanische Film "Promised Land" als auch der russische Beitrag "A long and happy life" erzählen Geschichten von Farmern, deren Leben auf den Kopf gestellt wird, als Großgrundbesitzer und Industrieunternehmen sich des Landes bemächtigen wollen. Ein deutscher Beitrag ("Gold") schickt seine Protagonisten in die weite Einsamkeit kanadischer Landschaften auf Goldsuche. Und der österreichische Film "Paradies Hoffnung" zeigt uns ein abgelegenes Heim für dicke Mädchen und Jungen auf dem Land.
Menschen in der Stadt
Ist das die Lebenswirklichkeit anno 2013? Kosslick und Co. werden sich sicher etwas gedacht haben bei ihrer Auswahl. Doch viele Filme mit ihren Provinzgeschichten und Einzelschicksalen konnten das Publikum und die Kritik nicht sonderlich überzeugen. Dass nun ausgerechnet zwei Filme, die sich von diesem Trend abgekoppelten, den meisten Beifall erhielten, mag Zufall sein. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht sind den Zuschauern Geschichten, die von Menschen in den Metropolen des 21. Jahrhunderts handeln, einfach näher, sind die Schicksale der Protagonisten zwingender und drängender für ein modernes Publikum von heute.
"Gloria" des chilenischen Regisseurs Sebastián Lelio nahm das Berlinale-Publikum im Sturm ein. Zu Recht. Der Film erzählt die Geschichte einer Frau Ende 50 auf der Suche nach Liebe. Gloria ist geschieden, die Kinder sind aus dem Haus. Bei Tanzveranstaltungen sucht sie nach einem Partner, sehnt sich nach neuem Glück. Wie die Schauspielerin Paulina García der Figur der Gloria Gestalt verleiht, wie sie zwischen Hoffnung und Leid schwankt, Haltung bewahrt, die kleinen Glücksgefühle des Alltags ebenso auskostet wie niederschmetternde Erfahrungen verarbeitet, das ist grandios anzuschauen. Ein Film mit einer kleinen, eigentlich ganz unspektakulären Geschichte, aber feinfühlig erzählt, psychologisch genau beobachtet.
Düsteres aus Rumänien
Aus Rumänien kam die andere Großstadtgeschichte, die in Berlin zu überzeugen wusste. Auch "Child's Pose" stellt eine Frau in reifen Jahren in den Mittelpunkt. Hier ist es ein Autounfall, der die filmische Fabel in Gang setzt. Cornelia unternimmt alles nur denkbar Mögliche um ihren Sprössling vor den Folgen des fatalen Verkehrsdelikts zu schützen. Regisseur Călin Peter Netzer inszeniert ein dichtes gesellschaftliches Panorama aus dem heutigen Rumänien. "Child's Pose" wirft einen scharfen wie bestürzenden Blick auf unterschiedliche soziale Schichten, auf die Spielregeln kapitalistischer Gesellschaften.
Zwei Filme aus ganz unterschiedlichen Regionen der Welt, zwei Filme auch, die Menschen von heute in den Mittelpunkt stellen, die deren Nöte und Sorgen zeigen.
Und dann war da noch der Film des iranischen Regisseurs Jafar Panahi. Der steht in seiner Heimat unter Hausarrest. Eine sechsjährige Gefängnisstrafe musste der Regisseur zwar bisher nicht antreten, darf seinen Beruf aber für Jahre nicht ausüben. Panahi, inzwischen weltweit bekannt als mutiger wie beharrlicher Verteidiger seiner Rechte, war schon vor seiner Verurteilung im Jahre 2010 ein anerkannter Filmregisseur, gewann Preise bei den Festivals in Cannes und Venedig, in Locarno und Berlin.
Überraschende Premiere
Es gehört zu den größten Rätseln dieser Festspiele, dass Panahis neuester Film "Pardé" überhaupt gezeigt werden konnte. Wie die Kopie des Films nach Berlin gelangte, wurde auch auf der Pressekonferenz von seinem Co-Regisseur und Hauptdarsteller Kamboziya Partovi nicht mitgeteilt. Und vielleicht ist auch das die einzige Erklärung: der Name Jafar Panahi ist inzwischen weltweit zu bekannt, als dass die Machthaber in Teheran mit allerletzter Konsequenz gegen den unliebsamen wie kritischen Künstler vorgehen würden.
Und sein neuer Film? "Pardé" stellt einen Schriftsteller vor, der sich in einer Villa am Meer versteckt hält. Er lebt dort nur mit seinem Hund. Die gelten im Iran als unreine Tiere. Doch trennen will sich der Autor nicht von seinem treuen Gefährten. Deshalb das Exil. Nach einer Stunde taucht im Film dann plötzlich Panahi selbst auf, übernimmt die Rolle eines Regisseurs. Es beginnt ein Spiel aus Traum und Wirklichkeit, aus Fiktion und Inszenierung, das bis zum Filmende von "Pardé" nicht restlos aufgelöst wird.
Natürlich ist es auch die Geschichte Panahis, die den Zuschauern hier nahe gebracht wird. Und natürlich ergeben sich zahlreiche Parallelen zwischen Realität und Kinofilm. Doch Panahi ist ein zu kluger Regisseur, als dass er es dabei belassen würde. "Pardé" ist eine vielschichtige Filmphilosophie über das Leben und die Kunst. Ein Film, der hier bei der Berlinale einen Bären gewinnen könnte. Der sollte dann allerdings nicht nur als politisches Statement angesehen werden. Es wäre auch ein Preis für einen der stärksten und überzeugendsten Filme der diesjährigen Berlinale.