Claude Lanzmann zum 90.
23. November 2015In Deutschland ist Claude Lanzmann vor allem für sein neuneinhalbstündiges Mammutwerk "Shoah" aus dem Jahr 1985 bekannt, einen zweiteiligen Dokumentarfilm, der mit keinem anderen Film zum Thema Holocaust vergleichbar ist. Lanzmann zeigt darin nicht etwa Archivmaterial, sondern ganz persönliche Gespräche mit den Opfern und den Tätern an den Orten der Vernichtung.
So etwas hatte es nie zuvor gegeben. Dank dieses radikalen Entwurfs wird Lanzmann zu einem der bekanntesten und wichtigsten Chronisten des 20. Jahrhunderts. 1987 erhält er für "Shoah" den Grimme-Preis, 2011 wird er Großoffizier der französischen Ehrenlegion, 2013 ehrt ihn die Berlinale mit einer Hommage und dem Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk.
Lebenslanger Kampf gegen den Faschismus
1925 als Kind jüdischer Eltern in Paris geboren, wird Lanzmann der Widerstandskampf in die Wiege gelegt: Schon als Schüler am Lycée Condorcet erlebt er den Vorkriegs-Antisemitismus am eigenen Leibe. Später in der Résistance bringt sein Vater, ein Weltkriegsveteran, dem jugendlichen Claude und seinen beiden Geschwistern die wichtigsten Regeln des Partisanenkriegs gegen die deutschen Besatzer bei, vor allem ein gesundes Misstrauen und einen "aktiven Pessimismus", wie Lanzmann in seinem Memoirenband "Der patagonische Hase" (2009) schreibt.
Die Bemühungen des Vaters haben Erfolg: Als 18-Jähriger organisiert Claude den französischen Widerstand in Clermont-Ferrand und kämpft kurz darauf als Partisan in der Auvergne, wo er und seine Kameraden den deutschen Truppennachschub in die Normandie stören. Dabei tötet er im aktiven Kampfeinsatz mehrere deutsche Soldaten, wie er später in einem Gespräch mit der Deutschen Presseagentur (dpa) erzählt.
Studium in Deutschland
Nach dem Krieg schreibt sich Lanzmann für den Studiengang Philosophie an der Pariser Sorbonne ein und geht 1947 nach Tübingen, um dort zu studieren. In einem Interview mit der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" sagt er später: "Ich konnte zu den Deutschen gehen, weil ich nicht geflohen war, weil ich sie bekämpft hatte. Und ich wollte es, weil Deutschland das Heimatland der Philosophie ist." Vor allem aber treibt ihn die Neugier in das Land der ehemaligen Besatzer, denn sein Hauptinteresse liegt bereits in der Analyse des Holocaust.
Im Wintersemester 48/49 doziert er als 23-Jähriger an der neugegründeten Freien Universität Berlin. Auf die Bitte seiner Studenten hin hält er Vorlesungen zum Thema Antisemitismus, wobei ihm Jean-Paul Sartres Werk "Überlegungen zur Judenfrage" als Basis dient. Zurück in Paris arbeitet Lanzmann als Journalist. Sein Artikel "Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang", der in der Tageszeitung "Le Monde" veröffentlicht wird, erregt das Aufsehen des von ihm verehrten Philosophen Sartre. Dieser bittet Lanzmann, für seine Zeitschrift "Les Temps Modernes" zu arbeiten, deren Herausgeber Lanzmann bis heute ist. Von 1952 bis 1959 unterhält Claude Lanzmann außerdem eine Liebesbeziehung mit Simone de Beauvoir, bis zu ihrem Tod im Jahr 1986 steht er ihr sehr nahe.
Erst mit Mitte 40 beginnt Lanzmann seine filmische Arbeit. "Warum Israel?" aus dem Jahr 1973 handelt von der unbedingten Daseinsberechtigung des jüdischen Staates, dem er, der französische Intellektuelle und Atheist, sich sein Leben lang verbunden fühlt.
Ein Dokumentarfilm als Lebenswerk
Kurz darauf beginnt Lanzmann in Polen mit den Recherchereisen für sein Meisterwerk "Shoah". Zwölf Jahre lang sucht er nach Holocaust-Überlebenden und spricht mit Opfern und Tätern. In Köln bittet er den Westdeutschen Rundfunk (WDR) um finanzielle Unterstützung. "Wir kannten Lanzmanns ersten Film und haben sofort ja gesagt. Wir ließen ihm alle Freiheiten, denn uns war klar: Dies ist ein ganz großes Thema, und Lanzmann ist der richtige Mann dafür", so Wilfried Reichart, ehemaliger Leiter der WDR-Filmredaktion. "'Shoah' ist ein Gegenfilm. Ein Gegenmittel gegen Museen und Mahnmale, die Lanzmanns Meinung nach die Erinnerung verwalten". Der Film war eine Kampfansage gegen das Fassbarmachen der Gräuel.
Claude Lanzmanns Ziel ist die absolute Vergegenwärtigung. Er lässt die Überlebenden Zeugnis ablegen, auch wenn sie es selbst kaum ertragen können. Er bringt seine Protagonisten an die Orte des Schreckens zurück, lässt sie beim Erzählen die Handgriffe von damals ausführen. Er macht sie zu Darstellern der eigenen Geschichte, ähnlich wie bei einer psychologischen Anordnung. Regisseur und Protagonisten verbindet dabei eine langjährig aufgebaute, geradezu therapeutische Beziehung.
"Lanzmann ist ein einmaliges Werk gelungen, weil er die Inszenierung so passend gestalten kann, dass wir sie als Zuschauer nicht als Rollenspiel wahrnehmen. Dadurch bringt er uns so dicht an das Geschehene heran", sagt Gertrud Koch, Professorin für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin. 1986 hat "Shoah" seine internationale Kinopremiere bei der Berlinale und gewinnt auf Anhieb drei wichtige Kritikerpreise. Viele weitere folgen, Lanzmann wird international bekannt.
Sein Spätwerk: ein Rückblick
Aus den über 350 Stunden Bildmaterial von "Shoah" schneidet Lanzmann später weitere Filme, darunter "Ein Lebender geht vorbei" (1997), "Sobibor, 14. Oktober, 16 Uhr" (2001), "Der Karski-Bericht" (2010) und zuletzt #link:17254695:"Der letzte der Ungerechten"# ( 2013).
In seinem aktuellen Buch "Das Grab des göttlichen Tauchers", das am 30.10.2015 erschienen ist, arbeitet Lanzmann seine journalistische und schriftstellerische Tätigkeit auf. Er versammelt darin Reportagen, Erzählungen und Artikel, die er seit 1947 unter anderem für "Les Temps Modernes" geschrieben hat. In "unkonventionellen, eigensinnigen und freien" Texten, wie der Rohwolt-Verlag schreibt, porträtiert Lanzmann unter anderem Serge Gainsbourg, Richard Burton und Jean-Paul Belmondo. Er schreibt über so unterschiedliche Sujets wie Spielbergs Film "Schindlers Liste" und den deutschen Filmemacher Rainer Werner Fassbinder.
Lanzmann vergleicht seinen Lebensweg mit dem auf dem Buchcover gezeigten Taucher aus einer berühmten antiken Grabmalerei. Sie zeigt einen nackten Mann, der kopfüber von einem Turm ins Meer springt. "Alle wichtigen Entscheidungen, die ich zu treffen hatte, waren wie Kopfsprünge, Sturzflüge ins Leere." Die Sammlung seiner Texte beweist erneut, was für ein wichtiger und unangepasster Chronist Lanzmann bis heute ist.
Claude Lanzmanns aktuelles Buch "Das Grab des göttlichen Tauchers" ist im Rowohlt Verlag erschienen.