Ian McEwans Roman "Kindeswohl"
15. Januar 2015Zunächst geht es nur um handfeste Eheprobleme. Fiona Maye, McEwans literarische Hauptfigur, ist Richterin am Londoner High Court, spezialisiert auf Familienrecht. Verheiratet ist sie seit 30 Jahren mit Jack, einem Geschichtsprofessor. Der eröffnet ihr eines Tages, dass er gerne eine Affäre mit einer viel jüngeren Frau beginnen möchte. Ob man denn trotzdem zusammenbleiben könne, fragt Jack treuherzig, er liebe Fiona nach wie vor, nur mit dem Sex sei es einfach nicht mehr so aufregend. Die Richterin ist ob des unverschämten Vorschlags fassungslos, wirft ihren Mann hinaus und lässt die Schlösser der gemeinsamen Wohnung austauschen. Zur Frustbewältigung stürzt sich die auch zuvor schon ungemein gewissenhafte und fleißige Richterin noch mehr in die Arbeit.
Moralisches Dilemma
Ihr Beruf zwingt sie fast täglich zu schwierigsten Entscheidungen. Fiona hat es mit den kniffeligsten Fällen von Familienrecht zu tun. Meist geht es um Paare, die sich scheiden lassen und über die Zukunft der Kinder uneins sind. Das stellt Fiona Maye immer wieder vor große moralische Herausforderungen:
"Das Gericht hatte, im Namen der Kinder, zu entscheiden zwischen totaler Religion und einer leichten Abweichung davon. Zwischen Kulturen, Identitäten, Gefühlslagen, Lebensentwürfen, Familienbeziehungen, fundamentalen Grundsätzen, elementaren Loyalitäten und unabsehbaren künftigen Entwicklungen."
McEwan schildert in seinem Roman ein paar dieser Fälle und immer, so hat man als Leser den Eindruck, spielt die Religion der beteiligten Personen eine wesentliche Rolle. Da wird um das künftige Sorgerecht zweier Mädchen in einer jüdischen Familie gestritten. Ein streng katholisches Elternpaar hat siamesische Zwillinge bekommen, von denen nur eines überleben kann. Und ein anderes Paar, das sich getrennt hat und dessen männlicher Part ein strenggläubiger Muslim ist, wird sich ebenfalls nicht einig, wo das gemeinsame Kind künftig aufwachsen soll.
Dramatischer Fall
Im Mittelpunkt von Ian McEwans Roman steht der Fall des an Leukämie erkrankten Adam, der nach medizinischem Standpunkt möglichst schnell eine Bluttransfusion erhalten müsste. Da die Eltern des noch nicht volljährigen Jungen aber Zeugen Jehovas sind, verweigern sie diese notwendige medizinische Maßnahme. Auch Adam möchte nicht das Blut eines fremden Menschen in sich haben und damit gegen die Lehre der Zeugen Jehovas verstoßen.
Fiona May muss ein rasches Urteil fällen. Die Zeit drängt, weil sich die Blutwerte des Jungen dramatisch verschlechtern. Sie weiß: Wie sie auch entscheidet, eine Partei wird vor Gericht unterliegen - und damit in ein Dilemma stürzen. Akzeptiert sie den Glauben Adams und seiner Eltern, würde das den voraussichtlichen Tod oder dauerhafte und schwere körperliche Schäden des Jungen nach sich ziehen. Entscheidet sie im Sinne der Ärzte, die Adam behandeln wollen, müsste sie sich über den Willen derjenigen hinwegsetzen, die über ihr eigenes Leben und das ihrer Nachkommen zu entscheiden haben. Ein Dilemma, das eigentlich nicht zu lösen ist.
Ian McEwan hat aus diesen dramatischen und auf authentischen Fällen beruhenden Geschehnissen einen meisterhaften Roman komponiert. "Kindeswohl" geht an die Grenzen des Erträglichen, weil der Autor den Leser zwingt, Stellung zu beziehen. In Fragen der Moral, der Ethik, des Gewissens. So wie auch Fiona sich gezwungen sieht, jeden Tag wieder in höchst komplexen Fällen zu urteilen.
"Dass Kirchenleute bereit waren, ein Leben mit all seinem Potential einem theologischen Grundsatz zu opfern, überraschte und beunruhigte sie nicht weiter. Das Gesetz selbst hatte ähnliche Probleme, erlaubte es Ärzten doch einerseits, bestimmte unheilbare Patienten zu ersticken, verdursten oder verhungern zu lassen und verbot andererseits die sofortige Erlösung durch tödliche Spritzen."
Vielfältiges Themenspektrum
McEwan ist ein Meister der psychologischen Verdichtung. Wie in vielen seiner früheren Romane gelingt ihm auch in "Kindeswohl" der Spagat zwischen zwei vermeintlich nicht zu vereinbarenden Gegensätzen. Auf der einen Seite versteht es der 66-Jährige immer wieder, aktuelle gesellschaftliche Probleme in seinen Roman zu packen. In der Vergangenheit waren das beispielweise Geschichte ("Schwarze Hunde", "Abbitte"), Politik ("Amsterdam") und Umweltzerstörung ("Solar"), Medizin ("Saturday") oder psychische Verirrungen ("Liebeswahn"). Auf der anderen Seite lesen sich McEwans Romane wie Krimis. Der Brite versteht es meisterhaft, Charaktere vor den Augen der Leser lebendig werden zu lassen und sie psychologisch glaubwürdig zu gestalten.
Ein Roman müsse Interesse wecken, sagte McEwan kürzlich gegenüber dem Wochenmagazin "Der Spiegel". "Sobald Sie sich einreden, es ist bestimmt gut für mich, diesen Roman zu lesen, betrügen Sie sich selbst. Sie müssen ihn lesen wollen."
"Die unendliche Vielfalt menschlicher Lebensbedingungen schließt willkürliche Festlegungen aus", zitiert Fiona May an einer Stelle einen von ihr bewunderten Lordrichter mit viel Lebens- und Berufserfahrung und meint damit den immer wieder schwierigen und neu zu überdenkenden Entscheidungsprozess als Richterin. McEwan gelingt es, das Porträt einer Richterin und eines Menschen zu zeichnen, der mit dieser unendlichen Vielfalt der Lebensbedingungen zurechtkommen muss. Ihre Eheprobleme, die am Ende des Romans wieder aufgegriffen werden, gehören da noch nicht einmal zu den schwierigsten.
Ian McEwan: Kindeswohl, Roman, 224 Seiten, Diogenes Verlag, Zürich 2014, ISBN: 978-3-257-06916-7.