Gewaltsame Proteste überschatten Gedenken
4. August 2021"Geiseln eines mörderischen Staates" stand auf einem riesigen Banner im Hafengebiet der libanesischen Hauptstadt. Hunderte wütende Angehörige und Freunde der Opfer verlangten am ersten Jahrestag der Katastrophe, dass die Verantwortlichen der gewaltigen Explosion endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Bei einem Protestzug durch Beirut führten Demonstranten eine nachgebaute Guillotine mit sich. Eine Frau trug ein Schild mit der Aufschrift: "Meine 'Regierung' hat mein Volk getötet, uns unser Zuhause genommen und unsere Stadt in Staub verwandelt." Eine andere junge Libanesin trauerte um ihren Bruder, Neffen und einen Cousin, die alle als Feuerwehrleute bei der Explosion getötet worden waren. "Wir wollen die Wahrheit", forderte sie.
Im Zentrum von Beirut versuchten junge Männer, eine Stacheldrahtbarriere zu überwinden, die den Zugang zum Parlamentsgebäude versperrte. Einige legten Feuer und schleuderten Steine auf Sicherheitskräfte. Diese gingen mit Gummigeschossen, Wasserwerfern und Tränengas gegen die Menge vor. Das libanesische Fernsehen zeigte einen Panzer, der Richtung Demonstranten rollte.
Angesichts "wiederholter Attacken" würden die Einsatzkräfte mit "verhältnismäßigen Mitteln" gegen "unfriedliche Demonstranten" vorgehen, warnte die Polizei. Das Rote Kreuz behandelte nach eigenen Angaben zahlreiche Verletzte. Mehrere Menschen mussten ins Krankenhaus gebracht werden.
Währenddessen versammelten sich - nur wenige hundert Meter von den Krawallen entfernt - am Hafen tausende Menschen zu einer friedlichen Gedenkfeier für die Todesopfer der Explosion. Ein großer Gottesdienst wurde abgehalten. Angehörige und Überlebende trugen Flaggen sowie Porträts der Toten.
Bei der Explosion von 2750 Tonnen Ammoniumnitrat in einem Silo im Hafen von Beirut waren am vierten August 2020 insgesamt 214 Menschen getötet und mehr als 6500 weitere verletzt worden. Das fahrlässig gelagerte Salz, das in der Landwirtschaft, aber auch zur Herstellung von Sprengstoff genutzt wird, löste die größte nicht-nukleare Explosion der Geschichte aus und verwandelte Beirut binnen Minuten in ein Katastrophengebiet.
HRW präsentiert neue Beweise
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) legte neue Beweise für den Vorwurf vor, dass die Regierung die Explosion hätte verhindern können. Trotz mehrfacher Warnungen vor der hochexplosiven Chemikalie habe die politische Führung nicht gehandelt, schreibt HRW in einem 127 Seiten langen Bericht. Fast sechs Jahre habe das Material in einem schlecht belüfteten und unzureichend gesicherten Hangar gelegen - inmitten einer dicht besiedelten Gewerbe- und Wohngegend.
Libanons Präsident Michel Aoun versprach am Dienstagabend Gerechtigkeit für die Opfer. "Die Wahrheit wird zum Vorschein kommen und jeder Schuldige wird seine Strafe erhalten", sagte Aoun in einer im Fernsehen übertragenen Rede. "Du wirst wieder auferstehen", versprach er an die Hauptstadt Beirut gerichtet.
Die Explosion hatte die schwere Wirtschaftskrise im Land noch verschärft, das zudem unter der Corona-Pandemie leidet. Kurz nach der Katastrophe war die Regierung zurückgetreten, seitdem ist der Libanon ohne handlungsfähige politische Führung.
se/fab (afp, rtr, dpa, ap)