1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Türkei: Pandemie außer Kontrolle?

15. Dezember 2020

Lange hat die türkische Regierung geschönte Corona-Zahlen veröffentlicht - und asymptomatische Fälle nicht mehr mitgezählt. Jetzt zeigt sich, wie dramatisch die Lage ist. Ausgangssperren sollen die Fallzahlen senken.

https://p.dw.com/p/3minO
Türkei Istanbul Coronavirus Ausgangssperre
Bild: Ozan Kose/APF/Getty Images

Eine Harry-Potter-Torte und ein Treffen mit ihren besten Freundinnen - das hat sich Iris Ertekin zu ihrem achten Geburtstag gewünscht. Jetzt flitzen die Kinder johlend über den Spielplatz im Istanbuler Stadtteil Kadıköy, während die Eltern auf einem mitgebrachten Camping-Tisch Kuchen, Snacks und Tee vorbereiten.

So eine Geburtstagsparty ist gar nicht so leicht zu organisieren, seit in der Türkei die neuen Corona-Maßnahmen gelten. Kinder und Jugendliche unter 20 dürfen unter der Woche nur noch drei Stunden am Tag vor die Tür, zwischen 13 und 16 Uhr.

Türkei Istanbul | Geburtstagsfeier
Geburtstagsfeier in Zeiten von Corona: Nur draußen und in einem engen ZeitfensterBild: Julia Hahn/DW

"Früher konnte ich raus, wann immer ich wollte. Das war viel besser", sagt Iris und zupft sich die blau gemusterte Gesichtsmaske zurecht. "Die Schule vermisse ich auch. Jetzt läuft das alles über Zoom - und es nervt total." Die Schulen in der Türkei hatten erst im September wieder schrittweise mit dem Präsenzunterricht begonnen. Seit Ende November sind sie wieder geschlossen, das Lernen findet nur noch online statt.

Lockdown - zu soft, zu spät?

Iris' Mutter Gülay versucht, das Leben zwischen Arbeit und Ausgangssperre so gut es geht zu organisieren. Oft ist sie überrascht, wie schnell sich die Kinder mit der schwierigen Situation arrangiert haben. "Die Kids tragen ihre Masken, ohne zu murren, auch beim Spielen. Sie haben sich daran gewöhnt", sagt sie. "Nur wenn wir alte Fotos angucken, fällt uns auf, dass die Masken nicht immer da waren."

Dass die Corona-Zahlen auch in der Türkei stark steigen, macht ihr Sorgen: "In unserem Bekanntenkreis gibt es Corona-Infektionen, in der Schule gab es Fälle und auch ein Verwandter hat sich angesteckt. Lange fühlte sich das alles so weit weg an, aber jetzt merken wir, wie das Virus uns immer näher kommt."

Türkei Istanbul | Geburtstagsfeier
Corona-Ausgangssperren: Kinder wie Iris dürfen nur noch drei Stunden am Tag nach draußenBild: Julia Hahn/DW

Die Ausgangsbeschränkungen für Kinder und Jugendliche sind nicht die einzige neue Anti-Corona-Maßnahme in der Türkei. Auch Senioren über 65 dürfen nur noch zu bestimmten Zeiten vor die Tür. Außerdem ist die Benutzung von Bussen und Bahnen für junge und alte Menschen verboten. Und an den Wochenenden gilt jetzt zum ersten Mal seit Mai wieder ein vollständiger Lockdown. Dann müssen alle - bis auf wenige Ausnahmen - zu Hause bleiben. Auch für Neujahr kündigte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan jetzt eine viertägige Ausgangssperre an.

Entsprechend trostlos sieht es in diesen Tagen in den sonst so belebten Vierteln der 16-Millionen-Metropole Istanbul aus. Restaurants, Bars, viele Läden - geschlossen. Ganze Straßenzüge - verwaist. Doch die Maßnahmen kommen zu spät, sagen Gesundheitsexperten.

Corona-Zahlen der Regierung: Nur die halbe Wahrheit

Von Juli bis Ende November hatte die türkische Regierung nur die vergleichsweise geringe Zahl der COVID-Patienten mit Symptomenveröffentlicht. Und deshalb dachten viele: Alles halb so schlimm, das Land kommt relativ gut durch die Krise.

Inzwischen geben die Behörden auch die Zahl der asymptomatischen Fälle bekannt - und vielen wird klar: Die Türkei ist eines, der am schlimmsten vom Coronavirus betroffenen Länder der Welt. Mehr als 30.000 Neuinfektionen pro Tag meldet das Gesundheitsministerium jetzt, so viele wie nie seit Beginn der Pandemie.

Türkei Istanbul | Ausgangssperre
Geschlossene Restaurants und Kneipen: Verwaistes Ausgehviertel im Stadtteil KadıköyBild: Julia Hahn/DW

Die offizielle Zahl der täglichen Corona-Todesfälle hat sich in den vergangenen vier Wochen mehr als verdoppelt, auf inzwischen mehr als 200. Und auch die Gesamtzahl der Ansteckungen seit Frühjahr hat die Regierung deutlich nach oben korrigiert - von rund 550.000 noch Anfang Dezember auf jetzt mehr als 1,8 Millionen.

Viele Istanbuler fühlen sich belogen. "Wir sind sauer darüber, wie die Regierung diese Krise managt, aber wir können ja eh nichts dagegen machen", sagt eine Passantin. "Der Regierung geht es vor allem um ihr Ansehen. Die wollen gut dastehen. Deshalb sind sie so intransparent", meint ein anderer.

"Krankenhäuser und Ärzte am absoluten Limit"

Seit Monaten werfen Kritiker der türkischen Regierung vor, das wahre Ausmaß der Pandemie zu verschleiern - vor allem, um die Wirtschaft zu schützen. Die Tatsache, dass Ankara lange keine vollständigen Fallzahlen veröffentlichte, habe die Verbreitung des Virus gefördert, ließ kürzlich die türkische Ärztekammer TTB verlauten, der größte Zusammenschluss von Medizinern in der Türkei. Man habe "die Kontrolle über die Pandemie verloren".

Auch Hausarzt Emrah Kırımlı ist Mitglied der Ärztekammer und hat mit vielen Corona-Patienten zu tun. Er sagt, dass die Behörden die Krise immer noch beschönigen. "Wir haben auch jetzt noch viel mehr Fälle, als die Regierung angibt. Ich schätze, wir sind bei 50.000 bis 60.000 Neuinfektionen pro Tag", so Kırımlı. "Die Krankenhäuser und Intensivstationen hier in Istanbul sind voll, es gibt keinen Platz mehr. Unsere Ärzte sind am absoluten Limit. Wir müssen jetzt dringend radikal gegensteuern."

Türkei Istanbul | Hausarzt Emrah Kirimli
"Wir brauchen radikale Gegenmaßnahmen", sagt der Istanbuler Arzt Emrah KırımlıBild: Julia Hahn/DW

Radikalere Maßnahmen so schnell wie möglich fordern auch Oppositionspolitiker. Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu zum Beispiel. Die Zahl der COVID-Toten, die allein in Istanbul jeden Tag beerdigt werden, sei fast so hoch wie die Zahl, die die Regierung fürs ganze Land meldet, sagte er vor wenigen Tagen - was die Regierung allerdings dementiert. Die bisherigen Maßnahmen hätten kaum etwas gebracht, "die Zahlen sinken nicht", so Bürgermeister Imamoğlu. "Wir brauchen einen kompletten Shutdown".

Um die Ausbreitung des Virus zu stoppen, müsse das öffentliche Leben in Istanbul für zwei bis drei Wochen vollkommen stillstehen, fordert der Bürgermeister. Beobachter gehen jedoch nicht davon aus, dass die Regierung diesen Schritt gehen wird. Immer wieder hatte Präsident Erdogan bekräftigt, man wolle weiteren Schaden von der türkischen Wirtschaft abwenden.

Die achtjährige Iris aus Kadıköy findet die jetzigen Maßnahmen schon heftig genug. Zu Hause sei es oft langweilig, und wann ihre Schule wieder aufmache, wisse auch niemand so genau. Ihre Party ist beendet - die drei Stunden im Freien sind vorbei. Die Kinder müssen wieder rein. Für nächstes Jahr, sagt Iris, wünscht sie sich einen Geburtstag ganz ohne Corona.

Türkei: Corona-Zahlen alarmieren