Gertrude Stein - Salon-Löwin mit dunkler Vergangenheit
3. Februar 2024Gertrude Stein führte zweifellos ein bewegtes Leben: innovativ im Umgang mit Sprache, ein lesbisches Rollenmodell, eine feministische Pionierin und literarische Anarchistin, die in ihrer Pariser Wohnung Gastgeberin illustrer Autoren und Künstler wie Hemingway, Fitzgerald oder Picasso durchfütterte.
Doch neben ihrem progressiven Lebensstil entwickelte die jüdisch-amerikanische Schriftstellerin und Kunstsammlerin während des Zweiten Weltkriegs auch eine Beziehung zu Nazi-Kollaborateuren, die ihr vermutlich das Leben und ihre außergewöhnliche Kunstsammlung rettete.
Ströme des Bewusstseins
Als jüngstes von fünf Kindern wurde Stein am 3. Februar 1874 in Allegheny, Pennsylvania, als Tochter wohlhabender Einwanderer deutsch-jüdischer Abstammung geboren. Als sie noch ein Kleinkind war, zog die Familie Stein kurzzeitig nach Europa, wo Gertrude ihre ersten Lebensjahre in Österreich und Frankreich verbrachte. Die Familie kehrte 1879 in die USA zurück und ließ sich zunächst in Baltimore und später in Oakland, Kalifornien, nieder.
1893 schrieb sich Stein am Radcliffe College ein, einem Frauencollege in Cambridge, das dem damals nur für Männer zugelassenen Harvard College gleichgestellt war. Sie studierte dort vier Jahre Psychologie. Einer ihrer Dozenten war William James, der als "Vater der amerikanischen Psychologie" bekannt wurde und Bruder des Schriftstellers Henry James war. Er ermutigte sie, die Erzählform des "Bewusstseinsstroms", wie sie etwa Schriftsteller James Joyce nutzte, zu erforschen. Sie sollte für ihren modernistischen Schreibstil prägend werden.
Später schrieb sich Stein an der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore ein. Nach anfänglich guten Leistungen verlor sie jedoch bald das Interesse und schloss das Studium nicht ab. Stattdessen zog Gertrude Stein nach Paris, wo ihr Bruder Leo lebte und bereits Kunst sammelte.
Mäzenin der Avantgarde-Kunst
Als versierte Kunstliebhaber sammelten die Geschwister Bilder von bekannten Künstlern wie Cézanne, Renoir, Manet und Gauguin. Aber sie kauften auch Werke von damals weithin unbekannten Malern, darunter frühe kubistische Gemälde von Pablo Picasso, Georges Braque und Juan Gris oder auch expressionistische Bilder von Henri Matisse. Ein Artikel in der "New York Times" von 1968 bezeichnete ihre Wohnung in der Rue de Fleurus 27 am linken Seine-Ufer als "erstes Museum für moderne Kunst".
Stein veranstaltete immer samstags Abendsalons, die nicht nur europäische Avantgarde-Künstler anzogen, deren Werke in ihrer Wohnung vom Boden bis zur Decke hingen, sondern auch amerikanische Schriftsteller. Stein nannte sie die "verlorene Generation"; zu ihren literarischen Gästen gehörten Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald und Ezra Pound.
"Jeder brachte jemanden mit, und sie kamen zu jeder Zeit, und es begann, ein Ärgernis zu sein, und so begannen die Samstagabende", wie Stein in ihrem Werk "The Autobiography of Alice B. Toklas" schrieb.
Sitzen für Picasso
Picasso begann kurz nach ihrer ersten Begegnung im Jahr 1905 mit der Arbeit an einem Porträt von Stein, als Dank für ihr Mäzenatentum. Stein saß angeblich bis zu 90 Mal für den spanischen Meister Modell. Erst dann meinte er, ihre Persönlichkeit - nicht ihr Aussehen - zufriedenstellend auf Leinwand gebannt zu haben.
Viele sahen jedoch wenig Ähnlichkeit mit Stein in dem, was ein Vorgeschmack auf Picassos Experimente im Kubismus sein sollte. Picasso soll geantwortet haben: "Macht nichts, am Ende wird sie es schaffen, genau so auszusehen." Das 1906 vollendete Werk ist heute Teil der ständigen Sammlung des Metropolitan Museum of Art in New York.
Der Komiker Charlie Chaplin, den Stein 1934 während einer sechsmonatigen Vortragsreise in den USA kennengelernt hatte, bezog sich in seinem Film "Rampenlicht" von 1952 auf ihr Gedicht "Sacred Emily", das 1913 geschrieben und 1922 veröffentlicht wurde. Darin heißt es: "Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose."
Chaplin schrieb später in seiner Autobiografie über die Schriftstellerin: "Sie würde mich gerne in einem Film sehen, wie ich die Straße hinaufgehe und um eine Ecke biege, dann noch eine Ecke und noch eine."
Verärgerter Hemingway
"Gertrude Stein ist angekommen", stand auf einem Schild, mit dem die Schriftstellerin und ihre Lebensgefährtin Alice B. Toklas während einer Werbetour auf dem New Yorker Times Square begrüßt wurden. Stein hatte bereits mehrere Bücher veröffentlicht, in denen es um lesbische Liebesaffären gegangen war, etwa "Q.E.D." oder "Tender Buttons" (1914).
"The Autobiography of Alice B. Toklas" brachte ihr aber schließlich literarischen Ruhm ein. Das Buch war 1933 in New York bereits neun Tage vor seiner Veröffentlichung ausverkauft, wurde in den beiden Folgejahren viermal nachgedruckt und machte Stein und Toklas zum damals berühmtesten lesbischen Paar der Welt.
Es ging darin um ihr Leben in Paris, wobei einige bissige Beobachtungen über die berühmten Pariser Salongäste gar nicht gut ankamen. Matisse war verärgert darüber, wie Stein seine Frau beschrieben hatte. Hemingway nannte es "ein verdammt erbärmliches Buch", nachdem er darin als "zerbrechlich und feige" beschrieben worden war. Er revanchierte sich in seinen 1964 erschienenen Memoiren "Paris - Ein Fest fürs Leben", in denen er Steins Prosa als Wiederholungen bezeichnete, "die ein gewissenhafterer und weniger fauler Schriftsteller in den Papierkorb gesteckt hätte".
Mit Nazi-Kollaborateuren befreundet
Während des Ersten Weltkriegs hatten sich Stein und Toklas freiwillig für den "American Fund for the French Wounded" gemeldet, um Versorgungsgüter in französische Krankenhäuser zu liefern - obwohl keine der beiden am Steuer besonders geschickt war. Beide erhielten die "Médaille de la Reconnaissance française", eine Auszeichnung, die an Zivilisten als Zeichen der Dankbarkeit der französischen Regierung verliehen wurde.
Steins Aktivitäten während des Zweiten Weltkriegs wurden kritischer hinterfragt. Als Jüdin und Homosexuelle, die im von den Nazis besetzten Frankreich lebte, wurde ihr geraten, das Land zu verlassen. Doch Stein und Toklas verließen lediglich Paris und gingen nach Bilignin, das im nicht von den Nationalsozialisten besetzten Teil des Landes lag, unter der Leitung des Vichy-Regimes. Dort übersetzte Stein zwar die antisemitischen Reden des ehemaligen französischen Generals Philippe Pétain ins Englische, doch es kam nie zu einer Veröffentlichung der Texte.
Stein war auch mit Bernard Fay befreundet, einem weiteren mächtigen Beamten der Vichy-Regierung. Sein Einfluss sorgte wohl dafür, dass die Nazis ihren riesigen und wertvollen Fundus an Kunstwerken nicht plünderten.
Stein starb kurz nach dem Krieg, vor 75 Jahren, am 27. Juli 1946. Sie wurde 72 Jahre alt und auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise begraben, wo auch Oscar Wilde, Frédéric Chopin, Edith Piaf, Amedeo Modigliani und Jim Morrison bestattet wurden.
Deutsche Adaption: Torsten Landsberg
Dieser Artikel wurde am 25. Januar 2024 aktualisiert.