Géraldine Schwarz über ihr Buch "Die Gedächtnislosen"
5. Dezember 2018Es seien die Geschichten "gewöhnlicher" Deutscher und Franzosen, anhand derer sie eine Schneise ins Dickicht der Vergangenheit schlagen wollte, schreibt Géraldine Schwarz zu Beginn ihres Buches: "Ein Mitläufer der Nazis hier, ein Gendarm im Dienste von Vichy dort." Das Vichy-Regime war das autoritäre Regime, das während der deutschen Besatzung von Juli 1940 bis August 1944 in Frankreich installiert wurde.
Der erwähnte "Mitläufer" ist ihr deutscher Großvater, der 1938 in Mannheim eine jüdische Firma "arisierte" - dabei wurden jüdische Geschäftsleute zwangsenteignet. Der "Gendarm im Dienste von Vichy" war ihr französischer Großvater. Im DW-Gespräch erläutert Géraldine Schwarz, wie sowohl Frankreich als auch Deutschland mit ihrer schweren Vergangenheit umgehen - und warum ihr dieses Buch so wichtig war.
Deutsche Welle: Frau Schwarz, was bedeutet für Sie der Begriff "Mitläufer"? Suggeriert er nicht eine gewisse Passivität?
Géraldine Schwarz: Es gab nach dem Krieg in der amerikanischen Zone ziemlich feste Definitionen, um die Nazis einzustufen. Eine Stufe war "Mitläufer". Nach der Definition der Amerikaner war mein deutscher Großvater ein Mitläufer, denn er war in der NSDAP. Ich finde, diese Definition ist eigentlich zu eng. Für mich ist jemand wie mein Großvater vielleicht ein Mitläufer, aber er war kein überzeugter Nazi. Er hat aus Opportunismus gehandelt. Meine Großmutter war dagegen eine überzeugte Nationalsozialistin, obwohl sie kein Parteimitglied war. Das heißt, der Mitläufer-Begriff, wie er von den Amerikanern definiert wurde, ist zu eng gegriffen.
Ich habe mir die Freiheit genommen, ihn etwas zu erweitern: Ich finde, Mitläufer sein ist mehr eine Haltung. Man macht einfach mit, sei es aus Opportunismus oder Angst oder Konformismus. Was auch immer. Es ist diese Ansammlung von kleinen Kompromissen und kleinen Verblendungen, die für mich die Haltung des Mitläufers ausmachen. Und das ist auf keinen Fall nur ein deutsches Phänomen.
Konnten Sie diese Typologie des Mitläufers auch auf das Vichy-Frankreich übertragen? Namentlich auf ihre Familie mütterlicherseits?
Anhand der französischen Familie habe ich versucht zu verstehen, ob mein Großvater als Gendarm unter dem Vichy-Regime vielleicht gewusst hat, was die Konsequenzen seiner Taten waren. Das Problem ist: Ich weiß gar nicht, was seine Taten waren. Er kam aus einer sehr armen bäuerlichen Familie und hat gekämpft, um Beamter zu werden, weil das wirklich das Beste war, man sich erhoffen konnte. Und er hatte diesen Job. Und schließlich eine schwangere Frau. Dann muss man sich auch die Frage stellen, ob man in dieser Situation solch einen Job kündigen würde.
Ich würde sagen: Mein französischer Großvater war schon Beamter vor Vichy und ist Beamter geblieben. Und als Beamter, als kleiner Gendarm, hat er die Demarkationslinie überwacht, die sich quer durch Frankreich zog. Zwischen der von den Deutschen besetzten Nord-Zone und der sogenannten freien Zone, die von Vichy aus regiert wurde. Ich weiß nicht, ob er dabei Juden und Widerstandskämpfer verhaftet hat an dieser Demarkationslinie.
Aber ich kann mir schon vorstellen, dass er das gemacht hat. Dann wäre er natürlich auch in dem Sinne ein Mitläufer gewesen - also eine dieser kleinen Figuren auf dem Schachbrett, die es ermöglichen, dass am Ende Verbrechen begangen werden. Deshalb habe ich im Buch viele verschiedene Profile von Mitläufern skizziert.
Es sind ja teils enge Verwandte, die Sie da skizziert haben, immerhin die Eltern Ihrer Eltern. Haben Sie nicht befürchtet, dass Sie zu befangen sein würden um ein unverzerrtes Bild zu zeichnen?
Man muss immer und bei jedem sowohl den historischen als auch den psychologischen Kontext verstehen. Ich möchte fair sein mit meiner Familie. Ich habe kein Loyalitätsproblem. Ich kann sie sehr streng verurteilen.
Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?
Am Ende des Buches erlaube ich mir tatsächlich ein Urteil. Auf jeden Fall, was meine deutschen Großeltern angeht. Weil sie ja auch nach dem Krieg das Hitler-Regime und dessen Verbrechen verurteilt haben - das Dritte Reich aber nie als Unrechtsstaat sehen wollten.
Womit wir bei der Nachkriegszeit sind: Der zweite große Teil des Buches widmet sich der Geschichte der Aufarbeitung der Zeit bis 1944/45.
Eigentlich ist es ein Buch über die Vergangenheitsbewältigung. Ich beschreibe natürlich die Haltung meiner Großeltern während des Krieges, aber Ziel des Buchs war zu zeigen, wie Deutschland diesen Übergang von einer Diktatur und Mitläufer-Mentalität zu einer gelungenen Demokratie geschafft hat. Das wollte ich entlang meiner Familiengeschichte nachzeichnen.
Wie würden Sie den Umgang mit der Vergangenheit auf beiden Seiten des Rheins beschreiben - was sind die zentralen Unterschiede?
Der größte Unterschied zwischen den zwei Ländern ist erst einmal, dass die Aufarbeitung jener Zeit in Frankreich so viel später begonnen hat: nämlich in den Siebzigern. Und erst 1995 hat der damalige Präsident Jacques Chirac die Verantwortung des Staates für die Verbrechen von Vichy anerkannt.
Auch alleine, was den Begriff angeht, gibt es Unterschiede. Es ist zum Beispiel ziemlich interessant, dass man in Deutschland sehr viele Worte für den Umgang mit der Vergangenheit hat: Erinnerungsarbeit. Erinnerungskultur, Vergangenheitsbewältigung, Geschichtspolitik, Vergangenheitspolitik, Aufarbeitung der Geschichte. In Frankreich gibt es eigentlich nur zwei Begriffe: "Travail de Mémoire" und "Devoir de Mémoire" - Erinnerungsarbeit und Erinnerungspflicht. Und diese Erinnerungspflicht wurde in Frankreich auch genau so praktiziert. Und die Erinnerungsarbeit ist schon ziemlich von oben erzwungen worden.
In Deutschland hat man anerkannt, dass eine große Mehrheit der Gesellschaft eine Verantwortung getragen hat. Und das hat dazu geführt, dass man sich natürlich die Frage gestellt hat: Wie ist es eigentlich möglich, dass fast eine ganze Gesellschaft zum Verbrechen umkippt? Oder zumindest dazu, einen verbrecherischen Staat zu unterstützen?
Nun heißt ihr Buch "Die Gedächtnislosen". Ich dachte zunächst, das zielt auf die Geschichtsvergessenheit in beiden Ländern und auf die Familien unmittelbar nach dem Krieg ab. Dann schreiben Sie aber im Vorwort: Sie hoffen, die Fäden der europäischen Geschichte zusammenzuführen, die von den Gedächtnislosen gekappt worden sind. Wer sind denn nun die hier gemeinten Gedächtnislosen?
In der Geschichte gibt es immer Gedächtnislose. Das ist ein Phänomen, was mich fasziniert. Nach dem Zweiten Weltkrieg begründeten fast alle europäische Länder einen Mythos. In Frankreich, Italien und den Niederlanden war es der Mythos, dass die Mehrheit der Bevölkerung Widerstand geleistet hätte. Das ist dann eine Art von Gedächtnisverlust.
In Deutschland war das noch faszinierender, was ich auch in den Briefen von meinem Großvater an den ehemaligen Eigentümer der arisierten Firma lesen konnte: Die deutsche Bevölkerung, die deutsche Gesellschaft hat jede Verantwortung, jede Schuld zurückgewiesen. Im Gegenteil: Man hat sich in die Rolle des Opfers begeben und sich selbst bemitleidet - ohne jegliches Schuldgefühl oder Empathie gegenüber den wirklichen Opfern, den Juden.
Aber heute, seit ein paar Jahren, habe ich den Eindruck, dass wir wieder in die Amnesie stürzen. Dass man sich nicht mehr erinnert. Ein Zeichen dafür ist die wachsende Skepsis gegenüber die Demokratie und der wachsende Erfolg des Rechtspopulismus. Und das ist wahrscheinlich auch der Hauptgrund, warum ich dieses Buch geschrieben habe.
Die Journalistin Géraldine Schwarz wurde 1974 in Straßburg geboren und ist Tochter eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter. Ihr Buch "Die Gedächtnislosen" erschien 2017 in Frankreich und 2018 in Deutschland. Laut Verlag wird es derzeit in sieben Sprachen übersetzt.
Das Gespräch führte Sven Töniges.