Endlich Gerechtigkeit für SED-Opfer?
16. Juni 2022Wenn Evelyn Zupke mit Betroffenen zu tun hat, hört oder liest sie regelrechte Horror-Geschichten. Wie die eines Mannes aus Sachsen-Anhalt, der mit 18 Jahren als politischer Häftling beim Ausheben von Klärschlamm mit bloßen Händen eine schwere Quecksilber-Vergiftung erlitt. Bis heute leidet er, wie viele Opfer der DDR-Diktatur unter den Folgen von Freiheitsentzug, Folter und Zwangsarbeit - gesundheitlichen und seelischen.
Viele Opfer sind nie entschädigt worden
Das Beispiel findet sich anonymisiert im ersten Jahresbericht, den Evelyn Zupke als Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur vorgelegt hat. Die frühere DDR-Bürgerrechtlerin ist die erste, die das neu geschaffene Amt bekleidet. Rund 300.000 Menschen sollen zwischen 1949 bis zum Sturz der kommunistischen Diktatur in Ostdeutschland 1989 aus politischen Gründen in Anstalten wie dem Berliner Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen gelandet sein. Unter den Opfern waren auch viele Jugendliche, die in sogenannte Jugendwerkhöfe gesteckt wurden. Ein verharmlosendes Wort, denn auch dort gehörten Misshandlungen und Schikanen zum Alltag.
Viele Opfer haben nie eine Entschädigung erhalten - weil sie keine handfesten Beweise für ihr erlittenes Unrecht liefern konnten oder Gutachten vorlegen sollten, die sie als weitere Demütigung empfanden. Manche der oft Hochbetagten haben aus Scham Jahrzehnte geschwiegen. Ihnen allen versuche sie nun zu helfen - und sei es zunächst nur, indem sie ihnen zuhört, sagt Zupke Gespräch mit der DW, "was dann oft auch schon eine Würdigung und ein Trost für die Menschen ist."
Bisher kein bundesweiter Härtefallfonds
Aber sie wolle mehr erreichen, sagt die 60-Jährige. Dafür besucht sie Opferverbände, spricht mit Parlamentariern - und drängt auf Möglichkeiten, SED-Opfern zu helfen, die bislang durch jedes Raster gefallen sind. Schon bei ihrem Amtsantritt im Juni 2021 forderte sie dafür einen bundesweiten Härtefallfonds. Zwar gibt es ein Rehabilitierungsgesetz und ein SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, aber davon haben längt nicht alle Betroffenen profitiert - weder ideell noch finanziell.
Sehr oft melden sich Menschen bei Evelyn Zupke, die teilweise seit Jahrzehnten um die Anerkennung ihrer gesundheitlichen Folgeschäden kämpfen. Aber die Verfahren seien auch mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall "sehr, sehr schwierig", bedauert die Opfer-Beauftragte. Die meisten würden daran scheitern und darüber "noch kränker".
Im Osten bessere Chancen auf Hilfe
Gerade für solche Fälle könnte ein deutschlandweiter Härtefallfonds ein Segen sein. Bisher gibt es so etwas erst in vier von 16 Bundesländern: Berlin, Brandenburg, Sachsen oder Thüringen. Und nur wer dort, also in bestimmten Teilen Ostdeutschlands wohnt, hat momentan eine Chance auf die einmalige finanzielle Hilfe.
"Und das kann natürlich nicht sein!", ärgert sich Zupke. Sie verweist auf die vielen SED-Opfer, die in anderen Bundesländern oder außerhalb Deutschlands leben und nach wie vor leer ausgehen. Nach Vorstellungen Zupkes, die selbst auf der Ostsee-Insel Rügen geboren wurde und heute in Hamburg lebt, soll sich das so bald wie möglich ändern. Sie sei da auch "guter Dinge" - vor allem deshalb, weil sich die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag zu einem Härtefallfonds verpflichtet hat.
In ihrem Jahresbericht für den Bundestag macht die Opfer-Beauftragte zahlreiche Vorschläge, um Opfern von DDR-Willkür schneller und unbürokratischer helfen zu können. So fände sie es gut, bei der Anerkennung von verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden eine "Vermutungsregelung" einzuführen. Die gibt es schon seit 2012 für Soldaten, die in Auslandseinsätzen körperliche und psychische Schäden erleiden.
Viele Opfer leben unter der Armutsgrenze
Dann könne auch für SED-Opfer beispielsweise der Zusammenhang zwischen politischer Haft und einem posttraumatischen Belastungssyndrom (PTBS) "als gegeben vorausgesetzt und ohne umfassende Nachweisführung und Begutachtungsverfahren" anerkannt werden, hofft Evelyn Zupke.
Wie dramatisch die Lage für viele Betroffene ist, geht aus einer Studie für das Bundesland Brandenburg aus dem Jahr 2020 hervor. Rund 60 Prozent der Befragten gaben an, unter körperlichen und psychischen Folgen der Repressionen zu leiden. Etwa die Hälfte von ihnen galt dem Einkommen nach als armutsgefährdet - mehr als dreimal so viele wie in der Gesamtbevölkerung des Landes.
Auslöser für gesundheitliche Folgeschäden war bei vielen Opfern Zwangsarbeit, von der oft große Firmen im Westen profitiert haben. Bislang hat nur das schwedische Möbel-Unternehmen IKEA angekündigt, sich an einer Unterstützung der Betroffenen zu beteiligen. Die ablehnende Haltung von deutschen Unternehmen, wie Quelle, Aldi, Woolworth oder Siemens hält Evelyn Zupke für "nicht nachvollziehbar". Die Opfer-Beauftragte appelliert deshalb in ihrem Bericht eindringlich an sie, sich ihrer "historischen Verantwortung" zu stellen.
Ein Mahnmal für die Opfer des Kommunismus?
Trotz aller ungelösten Probleme steht Deutschland aus Zupkes Sicht bei der Hilfe für Opfer der kommunistischen Diktatur im internationalen Vergleich ganz gut da; "Viele beneiden uns um das, was wir haben." Man habe seit über 30 Jahren viele gute Gesetze, trotzdem gebe es immer wieder Neues. "Es gibt immer wieder Gerechtigkeitslücken." Diese zu schließen, ist Aufgabe der Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur.
Dazu würde für sie auch gehören, ein zentrales Mahnmal für die Opfer des Kommunismus zu errichten. Dazu hat der Bundestag die Regierung schon 2015 aufgefordert. Außer Gute-Absichts-Erklärungen ist seitdem fast nichts geschehen. Evelyn Zupke wünscht sich deshalb mehr Tempo. Ihr Wunsch: die Grundsteinlegung für das Mahnmal am 70. Jahrestag des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 in der DDR - also 2023.