Gendergerechte Sprache: Streit ums Sternchen
4. August 2022Laut des World Happiness Reports lebt in Finnland die glücklichste Bevölkerung der Welt. Die Finnen haben es ja auch gut, sie können einfach "hän" sagen. Dieses geschlechtsneutrale Pronomen drückt "er", "sie" und "es" gleichzeitig aus. In diesem Punkt müssen sie sich also keine Gedanken um die Gleichstellung in der Sprache machen.
In Deutschland gibt es Vorschläge, ähnliche Begriffe einzuführen, damit die Sprache geschlechtsneutral und inklusiv wird. Daran entspinnt sich die Frage, ob Gendern die Sprache - und damit mittelbar auch die Gesellschaft - gerechter macht oder die Menschen eher sogar spaltet?
"Wenn ich weiß, dass bestimmte Begriffe einzelne Personen oder Gruppen verletzen, dann sollte man versuchen, die Dinge anders auszudrücken, aus Respekt", sagte die heutige Bundesaußenministerin Annalena Baerbock vor einem Jahr im "Tagesspiegel". Andere sehen im Gendern ein Vergehen an der deutschen Sprache. Die Debatte wird teils heftig geführt, insbesondere in den sozialen Netzwerken. Die frühere ZDF-Nachrichtenmoderatorin Petra Gerster wurde angefeindet, als sie in ihren Moderationen zu gendern begann.
Dass Gendern überhaupt auffällt, mag auch daran liegen, dass es keine verbindlichen Regeln gibt und jede und jeder es so handhaben kann, wie sie oder er es möchte.
"Sprachliche Varianten sind in Deutschland per se nicht ungewöhnlich", sagt Anatol Stefanowitsch, Professor für Sprachwissenschaften an der FU Berlin, im DW-Gespräch. Es gebe historisch viele regionale Dialekte, die heute auch in anderen Kontexten vorkämen. "Ausprobieren ist gar nicht schlecht, weil es ein Anstoß für Diskussionen sein kann."
Sternchen und Unterstriche gegen das Patriarchat
Ohnehin sei die Entwicklung des Sprachgebrauchs dynamisch und bilde sich aus der Gesellschaft heraus, sagt Stefanowitsch. Was heute in der Alltagssprache Anwendung finde, sei in manchen Communitys bereits vor 20 oder 30 Jahren ausprobiert und etabliert worden. "Das übergreifende Thema ist die Anerkennung, dass die Kategorie Geschlecht in der gesellschaftlichen Erscheinungsform komplizierter ist, als es die Sprache bislang abbildet."
Die Diskussion beschränkt sich nicht auf Deutschland. In romanischen Sprachen weisen die Endungen auf -o oder -a auf Geschlechter hin, auch dort werden Alternativen diskutiert. Was in der Debatte hierzulande häufig verloren geht, ist die Tatsache, dass niemand in den privaten Sprachgebrauch eingreifen will. Veränderungen hin zur gendergerechten Sprache beziehen sich auf die öffentliche Kommunikation in Behörden oder auch in Unternehmen.
Im Juni bekam eine nicht-binäre Person ein Schmerzensgeld zugesprochen, weil beim Fahrkartenverkauf der Deutschen Bahn nur die Anreden als "Frau" oder "Mann" zur Auswahl standen. Ende Juli erlitt ein Mitarbeiter des VW-Konzerns vor Gericht eine Niederlage. Er war genervt davon, dass in der internen Kommunikation der Unternehmenstochter Audi der Unterstrich als Genderformen genutzt wird, also "Mitarbeiter_innen" angeschrieben werden und hatte geklagt. Doch bei Audi darf man weiter gendern.
Zahlreiche Einrichtungen haben sich Gender-Leitfäden auferlegt, viele Institutionen verwenden sprachliche Formen wie das Sternchen * ("Student*innen"), den Unterstrich ("Bürger_innen") oder das Binnen-I ("PolitikerInnen"). So sollen alle Geschlechter angesprochen werden, etwa auch nicht-binäre Personen, also Menschen, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlen.
"Neue Mittel sind nötig"
Die Gesellschaft für deutsche Sprache verweist darauf, dass die gesellschaftliche Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Grundgesetz verankert ist. Sie schreibt: "Beispielsweise benötigen einer Studie zufolge Frauen im Vergleich zu Männern mehr Zeit, um einen Text zu verstehen, in dem das generische Maskulinum verwendet wurde, denn sie müssen stets - auch unbewusst - am Kontext überprüfen, ob sie tatsächlich mitgemeint oder im Einzelfall nur Männer angesprochen sind. Neue Mittel sind nötig."
Hier beginnt die Kontroverse. Gegner des Genderns halten am generischen Maskulinum - der geschlechtsneutralen Verwendung maskuliner Nomen und Pronomen ("Doktor", "Präsident") - fest und argumentieren, es beziehe sich eben auf alle Geschlechter. Außerdem sei Genus nicht Sexus, das grammatische also nicht gleich das natürliche Geschlecht.
1,6 Millionen Klicks fürs Scheitern der Gendersprache
Zu ihnen zählt die 26-jährige YouTuberin Alicia Joe, der dort rund 470.000 Menschen folgen. Im Januar stellte sie ein halbstündiges Video auf die Plattform, der Titel: "Warum Gendersprache scheitern wird".
Darin dekliniert sie Für und Wider, erklärt ihre Vorbehalte und bietet Lösungsvorschläge an. Mit bislang mehr als 1,6 Millionen Klicks ist es ihr erfolgreichstes Video auf YouTube.
"Eine Lösung ist, dass jeder gendern oder nicht gendern kann, wie er will", sagt sie im DW-Gespräch. Sie selbst nutzt das generische Maskulinum, in einer Talkrunde rutschte ihr aber auch schon mal raus, dass sie Astronautin werden wollte. "Wenn Chancengleichheit auf die Sprache reduziert wird, kann dadurch kaschiert werden, dass es sie in der Realität nicht gibt. Solange Frauen nicht gefördert werden, gibt es keine Veränderung", sagt Alicia Joe.
Gendern funktioniere in vielen Fällen grammatikalisch nicht. "Außerdem wird die sowieso schwierige deutsche Sprache für Deutschlernende dadurch weiter erschwert." Die YouTuberin verweist auch auf Umfragen, denen zufolge eine deutliche Mehrheit das Gendern ablehne.
Schlägt ihr Unverständnis entgegen, weil sie als junge, selbstbewusste Frau gegen das Gendern ist? "Ich merke, dass mir die Betroffenheit abgesprochen wird. Ich kenne aber viele Frauen, die dem Gendern sehr ambivalent gegenüber stehen." Eine klare Abgrenzung zieht sie dort, wo Sprache genutzt wird, um andere zu diskriminieren, wie mit dem N-Wort. In solchen Fällen sei "eine Veränderung der Sprache unbedingt notwendig".
Wo beginnt die Diskriminierung?
Auch die Diskussion über rassistische, behindertenfeindliche oder antisemitische Begriffe laufe nicht ohne Kontroversen ab, sagt Anatol Stefanowitsch. "Über Wörter lässt sich aber leichter reden, wir können uns schneller auf die Bedeutung einigen." Beim Gendern sei die Thematik anders gelagert.
"Sprache wird weitgehend unbewusst verarbeitet", erklärt Stefanowitsch. Wer das generische Maskulinum nutzte, meine andere - also Frauen und nicht-binäre Menschen - zwar meistens mit. Die Forschung zeige jedoch, dass die entsprechenden Formen unterbewusst auch als Maskulinum interpretiert würden. "Wir haben uns über Jahrzehnte angewöhnt, auf eine bestimmte Art zu sprechen und wollen mit dem generischen Maskulinum alle meinen. Die Bedeutung unserer Sprache definiert sich aber nicht über das, was wir uns wünschen."
Untersuchungen zeigten, dass Frauen durch das Gendern sichtbarer würden, sagt der Sprachwissenschaftler. Bei non-binären Personen sei das dagegen noch nicht der Fall. "In der gesellschaftlichen Realität sehen wir vor allem männlich oder weiblich, Diversität ist auch auf nicht-sprachlicher Ebene bislang wenig sichtbar." Dennoch trage das Gendern zur Bewusstmachung bei und kratze an alten Verhaltensweisen. "Nur so können Emanzipierungsprozesse jenseits der Kategorie Frau/Mann in der Zukunft gesellschaftliche Normalität werden."