Überbelegt und überfrachtet
10. Februar 2019In Deutschlands Justizvollzugsanstalten ist die Stimmung angespannt. Häftlinge greifen Wärter an, der Drogenkonsum nimmt zu, es herrscht eine babylonische Sprachverwirrung - und immer weniger Personal muss sich um mehr Insassen kümmern.
Damit nicht genug: Wenn es nach Bundesinnenminister Horst Seehofer geht, sollen in Justizvollzugsanstalten in Zukunft auch Abschiebehäftlinge einsitzen. Grund für den Vorstoß, der in der Großen Koalition für Auseinandersetzungen sorgt, sei die hohe Zahl von Rückführungen, die daran scheiterten, dass ausreisepflichtige Ausländer am Tag der Abschiebung nicht auffindbar seien.
Prellbock der Politik
Seehofers Vorstoß steht stellvertretend für die wachsende politische Instrumentalisierung der Justiz. "Nach der Kölner Silvesternacht ist der öffentliche Druck auf die Gerichte gestiegen", sagt Peter Brock, Vorsitzender des NRW-Landesverbandes vom Bund der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands (BSBD), im DW-Gespräch. "Und dann sind mehr Freiheitsstrafen verhängt worden."
Flüchtlingspolitik, Fachkräftemangel, Drogenkonsum, Terrorismus, politische und religiöse Radikalisierung - in den 180 Justizvollzugsanstalten des Landes spiegeln sich die gesellschaftlichen Probleme wie im Brennglas. Die Sehnsucht, sich dieser hinter den Gefängnismauern zu entledigen, kennt Vollzugsbeamter Brock nur zu gut: "Wir müssen das alles ausbaden. Das ist unser Job", lautet sein Fazit nach 37 Dienstjahren.
Zum "Ausbaden" gehören auch Prügel, Faustschläge, Spucken und Beleidigungen. Denn die Gewalt hinter den Mauern nimmt zu. Aus einer großen Anfrage der FDP-Fraktion im baden-württembergischen Landtag an die Landesregierung vom Oktober 2018 geht hervor, dass aggressives Verhalten sowohl unter den Gefangenen selbst als auch gegenüber Vollzugsbeamten immer häufiger vorkommt.
"Dienstunfähig" geschlagen
So stieg die Anzahl der "Angriffe auf Bedienstete, die eine Dienstunfähigkeit zur Folge hatte", in den Haftanstalten Baden-Württembergs von neun Vorfällen im Jahr 2012 auf 24 Vorfälle im vergangenen Jahr. In Sachsen, wo wesentlich weniger Häftlinge einsitzen (siehe Grafik), wurden 2016 insgesamt 25 Angriffe registriert, ein Jahr später waren es 31.
Auch die Selbstmorde von Häftlingen haben erneut zugenommen. Allein in Nordrhein-Westfalen wurden 2016 in Justizvollzugsanstalten laut Ministerium 19 Suizide verzeichnet und damit wieder das Niveau der 1990er-Jahre erreicht. In beiden vergangenen Jahren ist die Zahl wieder zurückgegangen, 2018 wurden elf Fälle registriert.
Für den Justizvollzugsbediensteten Brock ist das nur die "Spitze des Eisbergs": "So viele Angriffe gegen Kollegen wie in den letzten drei Jahren habe ich noch nie erlebt", sagt er. "Allein 2018 hatten wir über 600 Angriffe, Beleidigungen und Bedrohungen in NRW."
Überbelegung und Drogenkonsum
Die Gründe für die Verrohung sind immer die gleichen: Eine zunehmende Anzahl psychischer Störungen unter Häftlingen, Drogen- und Alkoholabhängigkeit, Verständigungsschwierigkeiten, Nationalitätenkonflikte und Überbelegung.
Für die zunehmende Enge hinter Gittern gibt es mehrere Gründe: In vielen Bundesländern ging die Zahl der verfügbaren Haftplätze in den vergangenen Jahren zurück. Gefängnisse wurden entweder saniert oder aufgrund der sinkenden Gefangenenzahlen geschlossen.
Mehr ausländische Straftäter
Gleichzeitig führte die unvorhersehbare Flüchtlings- und Einwanderungswelle 2015 zu einem Anstieg der Häftlingszahlen. In Nordrhein-Westfalen, mit rund 16.000 Insassen das Bundesland mit den meisten Häftlingen, stieg der Anteil ausländischer Inhaftierter von 29 Prozent im Jahr 2013 auf 36 Prozent (2018) an. In Baden-Württemberg schnellten die Zahlen im selben Zeitraum von 35 Prozent auf 48 Prozent empor.
"Gerade bei ausländischen Straftätern besteht Verdunkelungsgefahr oder Fluchtgefahr", erklärt Vollzugsbeamter Brock. "Ein deutscher Straftäter wird vielleicht nicht inhaftiert, weil er einen festen Wohnsitz oder eine Arbeit hat, da geht man davon aus, dass der nicht abhaut. Bei den ausländischen Tätern ohne festen Wohnsitz liegt die Vermutung nahe, dass sie versuchen, über die Grenze zu kommen und dann für uns nicht mehr greifbar sind."
In NRW hat man auf die angespannte Lage reagiert. In vielen Haftanstalten gibt es mittlerweile Integrationsbeauftragte, es werden Deutsch- und Alphabetisierungskurse angeboten, Dolmetscher und Islamwissenschaftler eingestellt.
Vorschläge aus Berlin? Nein, danke!
Dass Bundesinnenminister Seehofer nun ausgerechnet in die überfüllten Justizvollzugsanstalten auch noch ausreisepflichtige Asylbewerber einquartieren will, quittiert Marcus Strunk von der Vollzugsdirektion in NRW mit Kopfschütteln. "Das europäische Recht verbietet die gemeinsame Unterbringung von ausreisepflichtigen Ausländern und Straftätern", stellt er klar. "Außerdem sind wir im Erwachsenenstrafvollzug voll ausgelastet."
Auch in Sachsen ist Seehofers Vorstoß "kein Thema". "Wir verfügen in Dresden über eine Abschiebeeinrichtung, die nicht ausgelastet ist", erklärt Ministeriumssprecher Jörg Herold. Und aus dem Justizministerium in Baden-Württemberg heißt es knapp: "Die "Belegungssituation in den Justizvollzugsanstalten des Landes ist bekanntlich angespannt".