Gefährliches Spiel mit dem Defizit
11. November 2004Die Amerikaner leben über ihre Verhältnisse. Sie verbrauchen mehr, als sie produzieren. Sie importieren mehr, als sie exportieren. Eine seit Jahren auseinander klaffende Entwicklung, die sich jetzt zu rächen beginnt. Dieses Leistungsbilanzdefizit, also die Schere zwischen Importen und Exporten, wird in diesem Jahr auf ein Rekordniveau von 600 Milliarden Dollar steigen. Das sind 5,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Eine Studie der US-Investmentbank Goldman Sachs verdeutlicht die immense Größenordnung: Das Ausgleichen des Defizits würde rund 40 Prozent der weltweiten Netto-Ersparnisse auffressen.
Die Vereinigten Staaten allein sind nicht mehr in der Lage, dieses Loch zu stopfen. Ständig muss ausländisches Kapital in die USA fließen, um das gigantische Defizit noch finanzieren zu können. Doch der Zustrom ausländischen Kapitals schwächt sich immer weiter ab. Die vergleichsweise teuren Aktien und niedrigen Anleiherenditen in den USA verschrecken die Anleger.
Angst vor Dollar-Absturz
Noch 2003 halfen die asiatischen Zentralbanken der USA aus der Patsche. Sie investierten das Kapital, das für die Finanzierung des Defizits nötig ist - aus Angst, der Dollar könnte kollabieren und die exportorientierte asiatische Wirtschaft in eine Krise stürzen. Keiner weiß, wie lange die Amerikaner noch auf diese Unterstützung bauen können, zumal der Dollar weiter an Vertrauen verliert.
Seit ihrem Rekordhoch im Oktober 2000 hat die US-Währung gegenüber dem Euro fast 60 Prozent an Wert verloren. Bei vielen Anlegern mehren sich nun die Sorgen, ob die US-Regierung das horrende Leistungsbilanzdefizit in den Griff bekommt.
Bush muss Vertrauen sichern
Präsident George W. Bush, der auch das Milliardenloch im US-Haushalt zu verantworten hat, blieb eine Antwort darauf bislang schuldig. "Nur wenn Bush seine Wirtschaftspolitik bald klar formuliert, kann er das Ruder noch herumreißen", sagte Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburger Welt-Wirtschafts-Archivs (HWWA), im Interview mit DW-WORLD.
Verliert die USA das Vertrauen der Investoren, seien Schäden für die Wirtschaft unvermeidbar. "Im schlimmsten Fall kommt es zu einer Art Herdeneffekt", erklärt Straubhaar. "Dann ziehen die Investoren ihr Kapital aus Angst vor einem weiter fallenden Dollar schlagartig aus den USA ab". Die fatalen Folgen dieses Szenarios: Die US-Währung stürzt ab, die Importe verteuern sich, die Inflation steigt.
Gefahren für Europa
Der US-Ökonom Fred Bergsten, Leiter des "Institute for International Economics" in Washington, rechnet mit einem weiteren Sinkflug des Dollar um 20 oder sogar 30 Prozent: "Die Frage ist dann, ob der Euro sogar bis auf 1,80 Dollar steigt." Ein solch dramatischer Anstieg der europäischen Gemeinschaftswährung von jetzt knapp 1,30 Dollar würde Produkte aus Euroland deutlich teurer machen.
Die Amerikaner müssten dann zum Beispiel für Autos "Made in Germany" tiefer in die Taschen greifen. "Schon jetzt nimmt das Exportwachstum ab", gibt HWWA-Chef Thomas Straubhaar zu Bedenken. "Europa muss jetzt unbedingt seine Binnennachfrage stärken, um unabhängiger von den USA zu werden."
Positiver Nebeneffekt
Experten sind überzeugt, dass ein schwächerer Dollar der US-Regierung zumindest in einer Hinsicht gelegen kommt: Er hilft beim Abbau des Leistungsbilanzdefizits. US-Produkte würden im Ausland billiger, die Exporte gestärkt, die Lücke im Außenhandel würde kleiner. Allerdings kann dieser Prozess dauern: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat errechnet, dass eine Abwertung des Dollar um zehn Prozent das Leistungsbilanzdefizit gemessen am Bruttoinlandsprodukt innerhalb von zwei Jahren nur um etwa 0,2 Prozentpunkte reduziert.