Gefangen in Gaza: Der Berliner Abed Hassan
7. Oktober 2024In Berlin-Kreuzberg scheint die Welt ihren gewohnten Gang zu gehen. Sonne und Wolken wechseln sich ab an diesem Tag Ende September. An einige Häuserwände ist "Free Gaza" gesprüht. Die meisten Passanten aber laufen einfach weiter, vermutlich ohne die Graffiti rund um den Viktoriapark auch nur wahrzunehmen.
Für Abed Hassan hingegen ist der Krieg in Gaza immer präsent. Gerade erst gab es wieder eine Meldung, dass Luftschläge von Israels Armee (IDF) die sogenannte "sichere Zone" im Flüchtlingslager Al-Mawasi getroffen haben. Nach Angaben der IDF handelte es sich um den gezielten Angriff auf "Terroristen der Hamas". Nachrichtenagenturen berichten von Dutzenden Toten und Verletzten, Videos in Sozialen Medien zeigen Menschen, die im Sand nach ihren Habseligkeiten graben.
Abed Hassan weiß nicht, ob vielleicht jemand getroffen wurde, den er kennt: Freunde, Bekannte, vielleicht Familienangehörige? Zwei Cousins schicken ihm, so oft sie können, Updates aus Gaza, wann immer ihr Handy genug Strom hat und das Netz funktioniert.
"Ich bin paralysiert", sagt er. "Jeden Tag Tote, Tote, Tote. Hier und da dein Freund, jemand, den du kennst. Und alles zerstört. Das macht was mit einem." Er ist in Berlin, in Sicherheit, aber auch in Hilflosigkeit. Denn die anderen sind noch immer dort, wo Abed Hassan vor einem Jahr war: Im Krieg in Gaza, ausgelöst durch den Terrorangriff der militant-islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober bei dem rund 1200 Menschen getötet und 251 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt wurden. 97 von ihnen werden noch immer in Gaza festgehalten.
Israel begann noch am selben Tag damit, den Küstenstreifen zu bombardieren, es folgte eine Bodenoffensive der israelischen Armee. Ein Krieg, bei dem nach Angaben der Vereinten Nationen inzwischen mehr als 41.000 Palästinenser getötet wurden, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Ein Großteil des Gazastreifens liegt heute in Schutt und Asche.
Mit Instagram-Posts wird er zur "deutschen Stimme aus Gaza"
Abed Hassan war dort. Er hat die Bombardierungen mit eigenen Augen gesehen, hat Menschen aus den Trümmern gezogen, ist um sein Leben gerannt. Anfang Oktober war er gemeinsam mit seiner Mutter nach Gaza gereist, um die palästinensische Familie zu besuchen. Der Vater hatte in Gaza-Stadt eine Wohnung gekauft, Hassan renovierte sie und steckte plötzlich mitten im Krieg. Israel - und in Teilen Ägypten - riegelten den schmalen Küstenstreifen komplett ab. Fünf Wochen lang war Hassan in Gaza gefangen.
Was er erlebte, nahm er mit seiner Handykamera auf und veröffentlichte die Clips auf Instagram. Innerhalb kürzester Zeit hatte er mehr als 80.000 Follower - und wurde zur "deutschen Stimme aus Gaza". Denn die Abriegelung hatte auch zur Folge, dass ausländische Journalisten nicht in das Kriegsgebiet hineinkamen. Das gilt bis heute.
Hassan aber war da und sprach in seinen Videos Deutsch, im Gegensatz zu anderen Palästinensern, die Videos auf Social Media veröffentlichten. "Egal, wo man hier hingeht, die Bomben verfolgen einen wie ein Fluch", sagt er in einem Video vom 8. November 2023. Er weint, man sieht seinen Augen den Schock und die totale Verzweiflung an. "Ich habe gerade eine Frau rausgezogen, die hat geatmet, die hat geatmet!" Immer wieder postet er Fotos von Gaza-Stadt in Trümmern und fragt sich, wann das Haus getroffen wird, in dem er sich gerade befindet.
"Ich habe in Gaza ab der dritten Woche eigentlich fast jeden Tag damit gerechnet", erinnert er sich. "Beim Schlafengehen habe ich mich schon mental von allen verabschiedet und dachte, jeden Moment kann es soweit sein."
Der Körper zurück in Berlin - der Kopf in Gaza
Nach 34 Tagen kam er raus - dank seines deutschen Passes. Gemeinsam mit seiner Mutter stand er im November 2023 endlich auf einer Liste des Auswärtigen Amts und durfte über den Grenzübergang Rafah nach Ägypten ausreisen. Sein Körper war zurück in Berlin, doch gedanklich blieb er in Gaza. Schuldgefühle plagten ihn. Was würden seine Verwandten denken, wenn sie sähen, wie "normal" er in Berlin lebte? Was, wenn er nicht alles versuchte, um diesen furchtbaren Krieg zu beenden?
Also gab er Interviews, trat in bekannten deutschen Talkshows und Nachrichtensendungen auf. Auch gemeinsam mit einer Überlebenden des Massakers auf dem Supernova-Musikfestival in Israel am 7. Oktober 2023 setzte er sich auf eine Bühne. "Das war mir extrem wichtig", erzählt er, "mit Menschen zu sprechen, die auf der Gegenseite waren. Ich habe keinen rassistischen Gedanken in mir, ich habe keinen Hass. Und ich möchte auch nicht, dass dir widerfährt, was mir widerfahren ist."
Mit dem Rennrad von Deutschland in den Nahen Osten
Rennradfahren wurde zu einer Art Therapie für ihn. In die Pedale zu treten, sich auf die Strecke zu fokussieren. Also startete er im April eine große Fahrradtour - nicht irgendwohin, sondern mit dem Ziel Gaza. Über Österreich, Slowenien, Kroatien nach Bosnien. Dort sprach er mit Überlebenden des Massakers von Srebrenica, fühlte eine Verbundenheit mit den Menschen in Bosnien. Muslime wie er.
Und, so sieht Hassan es, Überlebende eines Genozids wie er. Der Begriff ist umstritten. Vor dem Internationalen Gerichtshof hat Südafrika Klage gegen Israel eingereicht, es begehe einen Völkermord an den Palästinensern in Gaza. Israel weist dies zurück.
Von Bosnien fuhr er weiter in Richtung Türkei, flog schließlich nach Jordanien. Auf seiner Radtour filmte er sich für seine Follower auf Instagram, wollte Spenden sammeln für ein Feldkrankenhaus in Gaza. Das gelang ihm auch. Und doch stieß er erneut an Grenzen. Keine sprichwörtlichen, tatsächliche Grenzen, die Israel kontrolliert: Hassan, der neben dem deutschen auch einen palästinensischen Ausweis besitzt, wurde an der Grenze zum besetzten Westjordanland abgewiesen.
"Obwohl ich einen deutschen Pass habe, verwehrt Israel uns die Einreise." Das mache ihn wütend. Und traurig. Er nahm ein Video auf, das die Situation von Palästinensern angesichts israelischer Besatzung erklären sollte. Und dann habe er einfach nur geweint. "Jerusalem, die Al-Aksa Moschee, ein historischer, ein wichtiger Ort, nach dem ich mich mein Leben lang sehne, den ich aber vielleicht nicht betreten kann, bevor ich sterbe."
Palästinenser in Deutschland
Abed Hassans Familiengeschichte ist immer wieder von Flucht geprägt. Seine Großeltern stammen aus Dörfern, die seit der Staatsgründung zu Israel gehören. Seine Eltern wuchsen in Gaza in Flüchtlingslagern auf. Er selbst ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Die deutsche Staatsbürgerschaft bekam er erst mit 16 Jahren. Ein Staat Palästina wird von Deutschland wie auch den USA - anders als von einem Großteil der UN-Mitgliedsstaaten - nach wie vor nicht anerkannt.
"Wenn ich irgendwie meine Nationalität sagen sollte und ich sagte Palästina, sagten sie: Palästina gibt's nicht, du bist staatenlos. Man fragt sich: Wo gehöre ich hin, wer bin ich, wo sind meine Wurzeln?" Als er 14 war, nahmen ihn die Eltern nach Gaza mit. "Ein Schock war das", erinnert er sich. "Die engen Straßen, man merkte, wie sehr, sehr voll es dort ist. Als ich den Wasserhahn aufgemacht habe, habe ich gemerkt, dass das Wasser salzig ist. Dann wollte ich mein Handy aufladen und es gab keinen Strom."
Doch dann, so erinnert er sich, habe er die Menschen von Gaza kennengelernt. Freunde und Nachbarn seiner Eltern, die der Familie aus Deutschland als Willkommensessen ein Festmahl zubereiteten - und dafür teils Schulden machten. Die so herzlich waren, wie er es in Berlin nie erlebt hatte. Nach den sechs Wochen Sommerferien fühlte er sich in Gaza zuhause - mehr als in Deutschland.
"Ich bin Berliner wie jeder andere Berliner. Trotzdem gibt es immer das Gefühl von so einem latenten, unterschwelligem Rassismus: Du gehörst hier nicht hin", sagt er. Heute spüre er das mehr denn je. Ein Jahr dauert der Krieg in Gaza nun an. "Gewalt kann man nicht mit Gewalt bekämpfen, man kann eine Eskalation nicht mit noch mehr Gewalt bekämpfen."
Deutschland, das Israels Sicherheit zur "Staatsräson" erklärt hat, stehe weitgehend kritiklos an der Seite Israels. So zumindest sieht es Hassan. Deutschland liefere weiterhin Waffen, Deutschland bezeichne pro-palästinensische Demonstranten unterschiedslos als Antisemiten. So nimmt er das Land war, in dem er geboren wurde und in dem er sich zunehmend fremd fühlt.
"Ich hab das Gefühl, dass die palästinensische Perspektive in Deutschland gar nicht stattfindet. Egal, was ich sage, was ich erleide, was uns passiert, uns wird immer entgegnet: 'Aber Israel ist eine Demokratie, aber Israel ist ein Rechtsstaat.' Nicht für uns. Das, was uns Palästinensern widerfährt, ist weder Recht noch Demokratie."
Abed Hassan will mit Menschen in Dialog treten, die palästinensische Perspektive erklären, auf ein Ende des Krieges in Gaza und eine friedlichere Zukunft hoffen. Doch es fällt ihm zunehmend schwer. Er sei weder die deutsche Außenministerin noch der amerikanische Präsident, meint er resigniert.
Wie also sollte er den Krieg stoppen? Er sei nicht depressiv, sagt er. Aber manchmal denke er: "Ich möchte nicht mehr da sein. Ich wünschte, ich wäre in Gaza gestorben." Die Toten müssten nicht mehr mit ansehen, was in Gaza passiere, die Überlebenden hingegen seien gestraft mit der Bürde der Trauer. "Man kommt in einen Zustand, in dem ein Mensch nicht mehr fühlen kann, in dem das Herz hart wird."
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