Palästinensische Flüchtlinge: Für immer vertrieben?
30. September 2024Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ist die Hoffnung auf Frieden und damit auch auf eine Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge in alte Heimatorte in immer weitere Ferne gerückt. Warum gibt es heute viel mehr palästinensische Flüchtlinge als 1948? Und warum unterscheidet sich ihr rechtlicher Status von anderen Flüchtenden? Ein Überblick.
Wie viele palästinensische Flüchtlinge gibt es?
Die palästinensische Bevölkerung im Nahen Osten umfasst schätzungsweise sieben Millionen Menschen mit unterschiedlichem Rechtsstatus. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA)unterstützt nach eigenen Angaben zurzeit 5,9 Millionen Menschen in der Region.
Diese leben in 58 Flüchtlingslagern in Jordanien, Syrien, Gaza, dem Westjordanland einschließlich Ostjerusalem und im Libanon (siehe Karte).
Auch in Ägypten leben palästinensische Flüchtlinge. Seit dem Ausbruch des Israel-Hamas-Kriegs sind dorthin schätzungsweise 100.000 Menschen geflohen. Und in Israel leben 1,5 Millionen palästinensische Israelis.
Wer gilt als Flüchtling?
Laut UNRWA können "alle Personen, deren normaler Wohnsitz im Zeitraum vom 1. Juni 1946 bis zum 15. Mai 1948 Palästina war und die infolge des Konflikts von 1948 sowohl ihre Heimat als auch ihre Lebensgrundlage verloren haben", als Flüchtlinge registriert werden.
Dies betrifft auch "die Nachkommen von männlichen Palästina-Flüchtlingen, einschließlich adoptierter Kinder". Dies hat dazu geführt, dass die Anzahl der registrierten Personen von ursprünglich 750.000 Menschen im Jahr 1950 auf mittlerweile knapp sechs Millionen Menschen angestiegen ist.
Unter welchen Bedingungen leben palästinensische Flüchtlinge?
Der Alltag vieler palästinensischer Flüchtlinge und ihrer Familien ist von Armut und Diskriminierung geprägt. In vielen arabischen Aufnahmeländern können Palästinenser nicht die Staatsangehörigkeit des Landes erwerben und sind deswegen staatenlos.
Im Libanon leben nach UNRWA-Angaben etwa 80 Prozent der palästinensischen Flüchtlinge unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Sie können dort kein Eigentum erwerben, dürfen nicht in allen Berufen arbeiten und haben auch keinen Zugang zum staatlichen Bildungs- und Gesundheitssystem.
In Jordanien sind rund 2,3 Millionen Menschen als palästinensische Flüchtlinge registriert. Es ist das einzige arabische Land, das dieser Personengruppe die Staatsbürgerschaft verliehen hat. Bereits mehr als die Hälfte der jordanischen Bevölkerung ist palästinensischer Herkunft.
In Syrien hat sich die Lage aufgrund des anhaltenden Bürgerkriegs kontinuierlich verschlechtert. Im Jahr 2021 ergab eine UNRWA-Erhebung, dass 82 Prozent der registrierten palästinensischen Flüchtlinge in absoluter Armut leben. Mittlerweile kehren viele von ihnen aufgrund des Konfliktes zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah-Miliz nach Syrien zurück.
Warum gibt es ein Flüchtlingswerk speziell für Palästinenser?
Das Palästinenserhilfswerk UNRWA wurde durch die UN-Resolution 302 (IV) vom 8. Dezember 1949 konstituiert und nahm am 1. Mai 1950 seine Arbeit auf. Die UN-Vollversammlung hat das Mandat der UNRWA im Dezember 2022 bis zum 30. Juni 2026 verlängert.
Aufgabe der UNRWA ist die Versorgung von Palästinensern, die im Zuge des Israelisch-Arabischen Krieges und der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 aus ihrer Heimat vertrieben wurden oder fliehen mussten sowie deren Nachfahren. Palästinenser bezeichnen diese Zeit als "Nakba" – Katastrophe.
Der UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ist für den Schutz von allen anderen Flüchtlingen und Staatenlosen weltweit zuständig. Es wurde wie die UNRWA ebenfalls 1950 gegründet.
Die Trennung der Zuständigkeiten führt dazu, dass in Ländern wie Ägypten, in denen sich palästinensische Flüchtlinge aufhalten, aber die UNRWA nicht vertreten ist, die Betroffenen in einem juristischem Vakuum leben. Denn das UNHCR hat kein Mandat, sich um die palästinensischen Flüchtenden zu kümmern.
Warum fordert Israel die Auflösung des UNRWA?
Israels Regierung wirft der UNRWA vor, dass deren Mitarbeitende an dem Massaker vom 7. Oktober beteiligt waren. Das Hilfswerk sei massiv von der Hamas unterwandert.
Nach den Vorwürfen setzten mehrere Geberländer, darunter die USA, die EU-Kommission und auch Deutschland, ihre Zahlungen an die UNRWA aus.
Die UN veranlassten eine interne Untersuchung zu den Vorwürfen. In einer am 5. August 2024 veröffentlichten Erklärungheißt es, dass neun UNRWA-Mitarbeitende entlassen wurden, weil sie möglicherweise an den von der Hamas angeführten Anschlägen gegen Israel am 7. Oktober 2023 beteiligt waren. Vorwürfe gegen zehn weitere Mitarbeiter ließen sich demnach nicht bestätigen oder durch ausreichend Beweise belegen.
Gibt es ein Recht auf Rückkehr?
Laut Artikel 11 der UN-Resolution 194 haben alle Flüchtlinge das Recht auf eine Rückkehr in ihre Heimat, wenn sie bereit sind, mit ihren Nachbarn in Frieden zu leben. In den Augen der Regierungen vieler arabischer Staaten gilt dies auch für die heute lebenden Nachfahren der 1948 Vertriebenen.
"Die Nakba-Katastrophe ist für die palästinensische Bevölkerung identitätsstiftend. Denn mit ihr wird die Ungerechtigkeit betont", erklärt Peter Lintl, Mitarbeiter in der Abteilung Afrika und Naher Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik. Nach Einschätzung des Experten kann das Recht auf Rückkehr allerdings "nur im Rahmen von Friedensverhandlungen gelöst werden und ist nur in einem palästinensischen Staat vorstellbar".