Gefährliche Eskalation der Gewalt in Nahost
6. Juli 2006Die Stimmung in der Residenz des US-Botschafters im israelischen Herzlia war dem amerikanischen Nationalfeiertag am 4. Juli angemessen: Hamburger und Dixieland-Musik ließen vergessen, was die Menschen in den letzten Tagen beschäftigt hatte. Ministerpräsident Ehud Olmert aber brachte die Anwesenden zurück in die Realität. Er berichtete, dass erstmals eine Kassam-Rakete im Herzen Aschkelons niedergegangen ist. Dies sei eine Eskalation wie nie zuvor im Terror-Krieg, für den die "Hamas" verantwortlich sei. Olmert drohte weit reichende Folgen an.
Aschkelon liegt mehr als zehn Kilometer vom Gazastreifen entfernt. So weit waren die "Kassam" bisher nie gekommen. Es handelte sich dabei offenbar um eine neue und verbesserte Rakete. Israel muss sich nun wohl darauf einstellen, dass ein größerer Teil seines Territoriums als bisher in Reichweite dieser Raketen liegt. Für die Israelis ein gehöriger Schock, denn in den letzten Tagen hatten sie geglaubt, dass der Spuk des Raketenbeschusses aus dem Gazastreifen nun ein Ende habe. Denn am Montag (3.7.2006) waren israelische Einheiten in den nördlichen Gazastreifen vorgerückt. Ihre Aufgabe war es, in der Gegend des Ortes Beit Hanoun nach Waffen und Sprengstoff, insbesondere nach "Kassam"-Raketen, zu suchen, jenen einfachen Geschossen, die bewaffnete Gruppen im Gazastreifen immer wieder gerade aus der Gegend von Beit Hanoun auf Israel abschießen - besonders auf den nur wenige Kilometer entfernten Ort Sderot.
Erfolgloses Militär
Der israelische Vorstoß hat bisher aber keine vorzeigbaren Erfolge gebracht und auch dem verschleppten israelischen Soldaten Gilad Schalit wird er nicht helfen. Er wird vermutlich irgendwo im südlichen Gazastreifen festgehalten. Die Militäraktion soll anscheinend in erster Linie der israelischen Bevölkerung zeigen, dass die Regierung "etwas tut", und sie soll die Palästinenser einschüchtern.
Die Aktion stößt auf Unverständnis unter den Palästinensern, denn erst im Herbst 2005 verließ die israelische Armee den Gazastreifen. Schon zu Lebzeiten des im November 2004 gestorbenen Palästinenserpräsidenten Yasser Arafat war der Gazastreifen zur Hochburg islamistischer Gruppen geworden. Sie lehnen das von der PLO mit Israel ausgehandelte Oslo-Abkommen ab. Zum einen, weil es das Existenzrecht Israels anerkennt. Zum zweiten, weil es davon ausgeht, dass es im geografischen Palästina eines Tages zwei Staaten geben wird: Israel und Palästina.
Die "Hamas" - übersetzt: "Islamische Widerstandsbewegung" - entstand 1987 zu Beginn der ersten "Intifada" im Gazastreifen und baute auf der Ideologie der "Moslembrüder" auf. Sie machte sich rasch einen guten Namen bei den Palästinensern: Weniger wegen ihrer Ablehnung Israels, sondern weil sich die "Hamas" um die Armen kümmerte, die Opfer der Intifada und der Besatzung, weil sie humanitäre und soziale Hilfe leistete. Es waren vor allem diese Eigenschaften, die der "Hamas" Anfang dieses Jahres den Sieg bei den palästinensischen Wahlen einbrachte.
Provokationen radikaler Palästinenser
Während "Hamas" eine Anfang 2005 erklärte Waffenruhe auch nach der gewonnenen Wahl einhielt, versuchten Radikale, Israel mit Überfällen und Raketen zu provozieren. Schon nach dem wiederholten und massiven Raketen-Beschuss von Sderot und anderen Orten in den letzten Wochen reagierte Israel mit Angriffen auf die Abschussgegend der "Kassams". Zur gleichen Zeit waren Angehörige des Palästinensischen "Volkswiderstandes" - der zu "Hamas" gehört - offenbar schon dabei, einen unterirdischen Tunnel unter den Sicherheitsanlagen an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel zu graben. Ihr Ziel: Ein israelischer Militärposten in Israel selbst. Am 25. Juni hatten sie dieses Ziel erreicht. Beim Angriff auf den Militärposten kamen zwei Soldaten um, fünf wurden verwundet. Unter ihnen war auch der entführte 19-jährige Schalit, der in den Mittelpunkt der jüngsten Krise gerückt ist.
Seit zwölf Jahren hatten die Palästinenser keinen israelischen Soldaten mehr entführt. Damals endete der Befreiungsversuch tödlich: Der Entführte kam mit den Geiselnehmern um. Diesmal soll der Soldat gerettet werden. Aber Israel zeigt dabei kein klares Konzept. Zumal es nur vage Erkenntnisse darüber gibt, wo der Entführte sich befindet. In dem Wissen wie wertvoll ihr Gefangener ist, fordern die Entführer die Freilassung von Frauen und Minderjährigen sowie weiteren 1000 Gefangenen aus israelischer Haft. Israel aber lehnt ab und baut dabei auf die Unterstützung der EU und der USA.
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Offiziell gehört Israel zu den Staaten, die terroristischen Erpressungsversuchen nicht nachgeben. In Wirklichkeit aber hat es wiederholt Gefangene freigelassen, um eigene Soldaten, Bürger oder auch die sterblichen Überreste von Soldaten zurückzubekommen. Als Reaktion auf die Entführung begann die israelische Luftwaffe strategisch wichtige Brücken und das Elektrizitätswerk in Gaza zu bombardieren, Bodentruppen rückten in den südlichern Gazastreifen vor und auch die Westbank erlebte eine drastische Verschärfung der Lage: Israelische Soldaten machten in Ramallah und verschiedenen anderen Orten der Westbank Jagd auf Abgeordnete des palästinensischen Parlaments und Minister der "Hamas"-Regierung: Fast ein Drittel der Abgeordneten und drei Minister wurden festgenommen.
Dieses ungewöhnliche Vorgehen steht im Widerspruch zu internationalem Recht. Unter anderem, weil es eine kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung bedeutet. Die Hamas sieht darin eine Kriegserklärung. Israel sieht sich natürlich im Recht, wie Aharon Abramowitz , der Generaldirektor des Jerusalemer Außenministeriums, betont: "Der Hamas sind ihre Aktivitäten nicht nur in Israel verboten, sondern auch in anderen Ländern auf der Welt. Dieses Gesetz gibt es, und es kann auch angewandt werden. Und die ganze Zeit, auch in der Vergangenheit wurden viele festgenommen."
USA hilflos
Die Welt reagiert geschockt, aber auch hilflos. US-Außenministerin Condoleezza Rice ermahnt beide Parteien zur Deeskalation. Die Appelle verhallen ohne Folgen. Israel gibt nicht nach, sondern verstärkt seine Angriffe: Der Amtssitz von Ministerpräsident Haniyeh, das Innenministerium und andere Gebäude werden nachts angegriffen. Der palästinensische Regierungschef äußert sich resigniert: Man versuche - in Zusammenarbeit mit den Ägyptern und anderen Stellen - die Freilassung Gilad Schalits zu erreichen, die brutale israelische Reaktion gefährde diese Bemühungen aber und stärke die Entschlossenheit der Palästinenser:
In Israel selbst beginnt eine Diskussion über Sinn und Unsinn des militärischen Vorgehens. Aus den Kabinettssitzungen wird kolportiert, dass die Militärs eher skeptisch sind: Zwar befürworte man eine unnachgiebige Haltung, um Terrorakte "nicht noch zu belohnen", doch gleichzeitig ist man sich auch weitgehend einig, dass der entführte Soldat nicht mit militärischen Mitteln allein befreit werden könne. Politik und - vor allem - Diplomatie müssten dazu ihren Beitrag leisten. Zumindest teilweise müsse man wohl auf die Forderungen der Entführer eingehen.
Frieden auf den Friedhof
Für die Regierung Olmert steht innenpolitisches Prestige auf dem Spiel, aber auch der erklärte Plan, sich von großen Teilen der besetzten Westbank zu lösen. Unter den gegebenen Umständen erscheint es undenkbar, dass dieser Plan umgesetzt werden kann - so umstritten er ohnehin ist, weil Israel damit selbst festlegen will, wo die künftige Staatsgrenze verlaufen soll. Nämlich entlang der weltweit kritisierten Sperranlage, die Israel in den vergangenen Jahren auf palästinensischem Boden errichtet hat.
Zudem könnte die gegenwärtige Eskalation durch die neuen palästinensischen "Kassam"-Raketen mit ihrer größeren Reichweite auch dazu führen, dass Israel seine Truppen auf absehbare Zeit im Gazastreifen lässt und dort wieder zur Besatzungsmacht wird. Auch das ist keine ermutigende Perspektive. Die Not der Palästinenser und ihr Widerstand werden weiter wachsen und eine Verständigung mit Israel in noch weitere Ferne rücken. Eine langfristige Waffenruhe scheint derzeit das einzig halbwegs realistische Szenario. "Hamas" hatte das bereits vorgeschlagen, Israel hat abgelehnt. Der Gedanke an Frieden und an zwei Staaten in guter Nachbarschaft scheint jedenfalls zu Grabe getragen zu werden.