Gedichte lesen? Unbedingt!
14. März 2015Der Leipziger Buchpreis für Jan Wagners "Regentonnenvariationen" - das steigert die Nachfrage und lässt die Auflage in die Höhe schnellen. Der Hanser Verlag telefonierte sofort mit seinem Druckhaus und orderte nach. "Und für die Buchhändler ist das eine Ermutigung, das Lyrik-Regal etwas breiter zu machen", sagt Christoph Buchwald. Wenn sich einer mit Gedichten und ihrer Vermarktung auskennt, dann er, Lektor, Verleger und langjähriger Herausgeber des "Jahrbuchs der Lyrik", eines Sammelbands für ausgewählte zeitgenössische Gedichte aus dem deutschen Sprachraum.
Lyrik im Regal versteckt
Zur Stapelware scheint Lyrik derzeit nicht zu taugen, sie fehlt auf Bestsellerlisten, schafft es keineswegs in jede Buchhandlung und muss sich dort oft genug in abgelegenen Regalen verstecken. Dabei sind Lyrik-Veranstaltungen landauf, landab gut besucht. Und aktuell, während der Leipziger Buchmesse, kann man sich von dem erstaunlich breiten Angebot an Lyrik-Bänden überzeugen. Es gibt Gedichte, die glücklich, und andere, die fröhlich machen, Liebes- und Kriegslyrik, Natur- und Kurzgedichte. Von jungen, zeitgenössischen Autoren und natürlich von den Klassikern wie Celan, Goethe, Eich, Heine, Jandl, Brecht, Rühmkorf, Gernhardt und wie sie alle heißen. Der Hanser Verlag hat 446 Titel auf Lager, bei Suhrkamp zählt man gar nicht erst. Und zahlreiche kleinere Verlage pflegen das Genre mit Hingabe und großer selbstausbeuterischer Liebe.
Ein Gedicht will mehrfach gelesen und entschlüsselt werden. Denn es erzählt, sofern es gelungen ist, weit mehr als in den Worten steht, aus denen es sich zusammensetzt. Im besten Fall "fängt ein Gedicht auf einer Seite eine ganze Welt ein", sagt Julia Graf, Jan Wagners Lektorin bei Hanser Berlin. Lyrik könne uns eine Geschichte erzählen, für die andere einen Roman brauchen, "sie lässt mich plötzlich einen Nagel neu betrachten oder eine Quitte". Und sie sei die literarische Form, die ganz unmittelbar zu den Menschen spricht. "Das Glück der gelungenen Literatur kann man nie so schnell erleben wie in einem gelungenen Gedicht."
Warum das so ist, verrät Christoph Buchwald. Das Gedicht, sagt er, habe nämlich die Möglichkeit, "durch Rhythmus, Binnenreim, Anspielung, durch Aufeinandertreffen von Bildern etwas assoziativ heraufzuholen, was in den Worten selbst nicht steht." Ein Mehrwert also. Bedeutungsräume tun sich auf, mit verdichteten Gedanken und Fragen, die wir uns stellen - wir, die Leser und Leserinnen. Nur, dass wir nicht die rechten Worte gefunden haben. Gedichte, sagt Christoph Buchwald, "sind sozusagen Parameter, an denen ich meine eigenen Erfahrungen messen kann".
Andere Zeiten, andere Lyrik
Lyrik ist die älteste literarische Gattung überhaupt. Aber natürlich hinterfragt sie sich immer wieder aufs Neue, versucht, zeitgenössisch zu formulieren, Echo und Spiegel ihrer Zeit zu sein. Mit einem gewissen Schaudern erinnert Christoph Buchwald sich an das politische Gedicht Ende der 1970er Jahre. Damals habe man hochidealistische Utopien formuliert, die etwas Rechthaberisches gehabt hätten. Heute hingehen seien eher Zweifel, Fragezeichen, Risse spürbar.
Nach wie vor, sagt Sebastian Wolter, einer der beiden Verleger des Leipziger Hauses Voland & Quist, schreiben viele Leute Gedichte. Einige verlegt er, Nora Gomringer beispielsweise, die bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, oder Bas Böttcher, den bekanntesten deutschen Spoken-Word-Poeten. Voland & Quist bietet ihre Arbeiten in schönen Büchern an. Manchmal gehört auch eine CD dazu, sie bringt die Worte zum Klingen und Schwirren. Einige Texte von Nora Gomringer haben sogar die A-Kapella-Könner des Wortart Ensembles vertont. Lauter Schätze. Man wünscht ihnen, wie der Lyrik überhaupt, den Zuspruch, den sie verdienen. Ob Jan Wagners Auszeichnung dazu beiträgt? "Das hoffe ich sehr", sagt Christoph Buchwald.