Geburtenrückgang alarmiert Irans Führung
29. Juli 2020"Nein, ich will kein Kind", bekräftigt Sarah im Gespräch mit der DW. Die 38-jährige Teheranerin ist seit acht Jahren glücklich verheiratet. Sie arbeitet für eine Lebensmittelfirma. Finanzielle Sorgen hat sie nicht. "Ein Kind zu haben bedeutet viel Verantwortung. Die möchte ich nicht tragen, vielleicht weil ich mich von dem ständigen Wettbewerb im meinem eigenen Leben noch nicht erholt habe. Ich gehöre zur Generation der Babyboomer im Iran."
Sarah wurde nach der Revolution von 1979 im Iran geboren. Damals in den 1980er Jahren war die Geburtenrate im Iran noch eine der höchsten der Welt. Die Bevölkerung des Landes wuchs explosionsartig.
Bevölkerungswachstum der 80er Jahre
1979 hatte das Land 37 Millionen Einwohner. Familienplanung wurde gefördert. Das Bevölkerungswachstum war in den zehn Jahren zuvor sogar leicht zurückgegangen. Diese Geburtenplanung lehnten die religiösen Revolutionäre als "unislamisch" ab. Sie träumten von einem mächtigen, bevölkerungsstarken, schiitisch geprägtem Land im Nahen Osten. Während des langen blutigen Kriegs gegen den Irak in der 1980er Jahren warben alle Behörden für größeren Kinderreichtum.
In dieser Zeit kamen auch Sarah und ihre drei Geschwister zur Welt. "Wir hatte ein schönes großes Haus mit Garten. Aber außerhalb unseres Zuhauses war alles knapp. Die Kindergärten und Schulen hatten keine Kapazität für unsere Generation. Die Schulen mussten den Unterricht zeitversetzt organisieren, um alle Schüler unterzubringen. Und das war nur der Anfang. Wir alle wussten, dass es später um jeden Studienplatz, um jede Arbeitsstelle einen harten Wettbewerb geben würde. Ich habe immer noch dieses Gefühl von Unsicherheit und habe Angst, dass eine bessere meine Stelle bekommen könnte."
Familienpolitik im Wandel
Die Bevölkerung des Iran hat sich in den letzten 41 Jahren mehr als verdoppelt: Von 37 Millionen auf 84 Millionen Einwohner. Gleichzeitig fand in der Politik ein Umdenken statt. Man erkannte, dass die Bildungs- und Gesundheitssysteme überlastet waren und es während des Irak-Krieges an den nötigen Investitionen fehlte. Im Dezember 1988 erklärte der Oberste Gerichtshof, Familienplanung sei durchaus mit dem Islam vereinbar, und machte damit den Weg frei für ein modernes Programm zur Förderung der Familienplanung.
Mit diesem Programm sollte eine Familiengröße von durchschnittlich drei Kindern etabliert werden. Um dies zu erreichen, trieb die Regierung die Verbreitung moderner Verhütungsmittel voran und stellte flächendeckend Beratungs- und Aufklärungsmaßnahmen zur Verfügung. Damit gelang es, bis 2010 die durchschnittliche Zahl von Geburten je Frau von 5,1 auf 1,7 zu senken, eine Ziffer, die bis heute im Wesentlichen stabil geblieben ist. Gleichzeitig ist die Zahl der Geburten laut "Tehran Times" stark zurückgegangen, von rund 1,48 Millionen im Zeitraum März 2016 bis März 2017 auf rund 1,36 Millionen sowie 1,2 Millionen in den Folgezeiträumen, also pro Jahr über 100.000 Geburten weniger.
Der geistliche Führer Ajatollah Chamenei kritisiert seit langem die niedrige Geburtenrate in der Islamischen Republik. Chamenei wünscht sich einen Zuwachs der Bevölkerung auf zukünftig 150 Millionen. 2012 setzte er eine familienpolitische Kehrtwende durch und ließ sämtliche Gelder für Aufklärung und Verhütungsmittel streichen. Im Mail 2014 erklärte Ajatollah Chamenei die Steigerung der Geburtenrate sogar zu einem strategischen Ziel der Islamischen Republik.
Mehr Geburten gewünscht
In der Folge wurden eine Reihe von Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie eingeführt, die Frauen mehr Freiraum für die Mutterschaft ermöglichen sollen. So weitete der Gesetzgeber die Mutterschutzzeit auf neun Monate aus. Während der Schwangerschaft kann eine Frau per Attest jederzeit Krankenurlaub einreichen. Auch wurde Menschen mit Kindern der Zugang zu Krediten und Arbeitsplätzen erleichtert.
Diese Maßnahmen wurden von massiver Propaganda in staatlichen Medien und Einrichtungen wie den Universitäten begleitet. Die junge Bevölkerung aber konnte all das nicht überzeugen. Das Durchschnittsalter im Land liegt bei knapp 31 Jahren. Eine große Familie mit mehreren Kindern kommt für viele von diesen jungen Menschen nicht in Frage.
Wegen der massenhaften Landflucht in die überfüllten Städte, der anhaltenden Wirtschaftssanktionen durch die USA und nicht zuletzt der andauernden Trockenheit der vergangenen 30 Jahre haben viele Iraner ein schwieriges Leben. In dieser Situation können sich viele Menschen einfach nicht vorstellen, ein Kind auf die Welt zu bringen, so wie auch Sarah.