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Gaza: Wie weiter nach einem Sturz der Hamas?

21. November 2023

Israels Armee rückt weiter mit Bodentruppen in den Gazastreifen vor. Erklärtes Ziel: der Sturz der Hamas. Doch wie könnte es danach weitergehen? Es gibt verschiedene Szenarien. Einfach sind sie alle nicht.

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Israelischer Soldat im Hafen von Gaza
Israelischer Soldat im Hafen von GazaBild: Israeli Defence Forces/Handout via REUTERS

Rund 350.000 Reservisten hat Israel seit dem 7. Oktober mobilisiert, ein Teil des Heeres steht an der Grenze zum Libanon, ein anderes an der zum Gazastreifen. Seit Wochen läuft in Gaza eine  Bodenoffensive mit dem erklärten Ziel, die rund 240 verschleppten Geiseln zu befreien und die militant-islamistische Hamas, die von Deutschland, der Europäischen Union, den USA und mehreren anderen Ländern als Terrororganisation eingestuft wird, zu zerschlagen.

Zu diesem Schritt gebe es keine Alternative, sagt Michael Milshtein, ehemaliger Angehöriger des israelischen Militärgeheimdienstes und heute Forscher am Moshe Dayan Center der Universität Tel Aviv. Israels Sicherheitsinteressen hat er auch heute noch im Blick, seine Einschätzung der Hamas ist deutlich: "Die Hamas hat ihre Ziele - Förderung des Dschihad und Auslöschung Israels - immer sehr klar formuliert. Sie hat die wirtschaftliche Verbesserung nie als strategische Errungenschaft betrachtet und immer eine künftige Offensive gegen Israel angekündigt", so der israelische Sicherheitsexperte im DW-Interview.

Neues Machtvakuum verhindern

Wie aber soll der Gazastreifen nach der von Israel angestrebten Zerstörung der Hamas und ihrer Terrorstrukturen künftig politisch verwaltet werden? Noch haben die Israelis darauf keine offizielle Antwort gegeben. Es ist auch nicht absehbar, ob ihnen eine komplette Ausschaltung der Hamas dieses Mal wirklich gelingen wird. "Terrorismus kann man nie allein militärisch bekämpfen", sagt hierzu die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock im DW-Interview. Sie ist seit dem 7. Oktober bereits dreimal in die Region gereist, um dort zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. "Es geht um Sicherheit, es geht um Freiheit für die Menschen, und deswegen sind wir als Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit anderen Akteuren, auch mit arabischen Ländern, im intensiven Gespräch." 

Baerbock für "internationale Verantwortung" in Gaza (Video)

Eines aber liege auf der Hand, sagt Michael Milshtein: Ein Machtvakuum könne und dürfe es nicht geben. "Ein schneller Rückzug nach der Zerstörung des Hamas-Regimes würde ein Vakuum schaffen, das durch Anarchie und radikale islamistische Gruppen gefüllt würde." Ähnliches hat sich etwa in Afghanistan gezeigt, wo der "Islamische Staat" (IS) die notorische Schwäche der Regierungsinstitutionen auch nach der Machtergreifung der Taliban für seine Zwecke nutzte. Oder in der Sahelzone, wo dem IS die Schwäche oder gar Abwesenheit staatlicher Strukturen ebenfalls in die Karten spielte.  

Wie also könnte unter diesen Umständen eine neue Ordnung im Gazastreifen aussehen? Milshtein sieht mehrere Optionen - doch problematisch seien sie alle. Stephan Stetter, Politologe an der Universität der Bundeswehr München, sieht dies ebenfalls so.

Szenario 1: Israel kontrolliert wieder den Gazastreifen

Ein mögliches Szenario wäre, dass Israel wie bis 2005 wieder selbst den Gazastreifen direkt militärisch kontrollieren könnte, also eine Rückkehr Israels als Besatzungsmacht innerhalb Gazas. Ein solcher Schritt könnte jedoch neuen militanten Widerstand provozieren. Zudem hätte er fatale Auswirkungen auf das regionale Gleichgewicht, sagt Politikwissenschaftler Stetter der DW. "Es gäbe dann in Israel Stimmen, die dafür plädierten, den Gazastreifen wieder zu besiedeln. Und das wäre Wasser auch auf die Mühlen all derer, die diesen israelisch-palästinensischen Konflikt anheizen und aufrechterhalten wollen."

Hinzu käme: Eine Besatzungsmacht habe - zumindest theoretisch gemäß Völkerrecht - auch Versorgungspflichten gegenüber der besetzten Bevölkerung. "Diese Aufgabe müsste dann vor allem Israel selbst übernehmen. Finanziell würde das alle Möglichkeiten des Landes übersteigen", so Stetter. Dies gelte umso mehr, als Israel bereits jetzt durch den Angriff der Hamas vom 7. Oktober ökonomisch getroffen sei

Israel Touristen bleiben aus nach Hamas-Attacken
Geschlossene Läden in Jerusalems Altstadt - Die Eskalation in Nahost trifft auch Israels Wirtschaft schwerBild: THOMAS COEX/AFP/Getty Images

Gegen den politischen Widerstand seiner westlichen Verbündeten - vor allem der USA - könnte Israel eine neuerliche Besetzung vermutlich nicht durchsetzen. Zudem würde diese auch die Beziehung Israels zu den arabischen Staaten, mit denen es entweder bereits Friedensabkommen geschlossen hat oder solche plant, erheblich belasten. "Darum halte ich einen solchen Schritt für unwahrscheinlich", so Stetter.

Und vor noch ein Problem würde dieses Szenario Israel stellen: Es müsste sich weiter gegen einen ihm komplett feindlich gesonnenen Gazastreifen abschotten. "Israel würde zu einer Gefängnisdirektion und würde auf alle Zeit über ein riesiges Gefangenenlager herrschen (mit dem Gaza lange Zeit verglichen worden ist)", hieß es dazu unlängst im renommierten politischen Fachblatt "Foreign Affairs".

Szenario 2: Machtübernahme durch Palästinensische Autonomiebehörde

Alternativ könnte auch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in den Gazastreifen zurückkehren und ihn fortan wieder verwalten. Dieser Plan hat vor allem eine Schwäche, so der israelische Experte Milshtein: Die von Mahmud Abbas geleitete PA fungiert weiterhin als Regierung mit Präsident und Premierminister im Westjordanland, kontrolliert de facto nur einen kleinen Teil. Mehrheitlich hat Israel die Macht in dem Palästinensergebiet. "Wir sollten bedenken, wie schwach und unpopulär Abu Mazen ist." Abu Mazen ist ein vor allem im arabischen Raum gängiger Rufname von Mahmud Abbas.

Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas, hier bei seiner Rede vor den Vereinten Nationen, September 2023
Unter Druck: der palästinensische Präsident Mahmud AbbasBild: Palestinian Presidency /Handout/AA/picture alliance

Tatsächlich sind die PA und die sie dominierende Fatah, die Partei von Mahmud Abbas, im Westjordanland äußerst unpopulär. Korruption und mangelhafte Regierungsleistung treiben die Bürger immer wieder zum Protest. Vorgeworfen wird der PA auch mangelnde demokratische Legitimität. Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden im Jahr 2005 statt, seitdem herrscht Abbas dort quasi als "ewiges" Palästinenser-Oberhaupt ohne gültiges Wählervotum. Während er in westlichen Ländern zuletzt vor allem wegen antisemitischer Äußerungen und mangelnder Distanz zum Terror der Hamas Kritik auf sich zog, werfen ihm im Westjordanland nicht wenige Palästinenser vor, der Besatzungsmacht Israel gegenüber nicht hart und entschieden genug aufzutreten. 

Hinzu käme ein weiteres, sagt Stephan Stetter: "Würde die PA nach einem Sieg Israels über die Hamas in den Gazastreifen einziehen, könnte sie einigen gewissermaßen als Kriegsgewinnler gelten, der die Macht auf dem Rücken der Kriegsopfer ergriffen hat." Vor einem solchen Eindruck müsse die PA sich hüten. "Zugleich sollte sie aber bei allen anderen Zukunftsszenarien für den Gazastreifen eine wichtige Rolle spielen", meint der deutsche Konfliktforscher und Experte für Internationale Politik.

Szenario 3: Gemischte palästinensische Zivilverwaltung

Eine bessere, dennoch schwierige Option wäre eine gemischte palästinensische Zivilverwaltung, meint Sicherheitsexperte Milshtein. Diese würde sich aus unterschiedlichen Repräsentanten der palästinensischen Öffentlichkeit - darunter Bürgermeistern - zusammensetzen und eine enge Beziehung zur PA haben. Unterstützt werden könnte ein solches Modell etwa durch Ägypten, die USA, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), umreißt er das denkbare Szenario. Man müsse zwar damit rechnen, dass eine solche Ordnung nur von kurzer Stabilität sei. "Aber sie wäre viel besser als alle anderen Alternativen."

Szenario 4: UN-Verwaltung

Zwar könnten rein theoretisch auch die Vereinten Nationen die Verwaltung eines Konfliktgebiets nach Niederlage einer Konfliktpartei übernehmen, sagt Stephan Stetter unter Verweis auf entsprechende frühere Modelle etwa im Kosovo oder in Ost-Timor. "Im Gazastreifen ist dies aber nicht realistisch. Es dürfte in diesem Fall sehr viel schwieriger, wenn nicht unmöglich sein - da dieser Konflikt zu sehr im Fokus der Weltöffentlichkeit steht. Auch dürfte eine womöglich starke Rolle westlicher Staaten sehr kritisch gesehen werden", argumentiert der Politikwissenschaftler. Zudem würde sich die schwierige Frage eines entsprechenden UN-Mandats stellen.

USA New York | UN-Sicherheitsrat | Debatte über Nahost | Antonio Guterres, Generelsekretär
Hält ein UN-Protektorat über Gaza nicht für ein zukunftsweisendes Modell: UN-Generalsekretär Antonio GuterresBild: Seth Wenig/AP Photo/picture alliance

Auch António Guterres erteilte dieser Idee bereits eine Absage: "Ich denke nicht, dass ein Protektorat der UNO in Gaza eine Lösung ist", so der UN-Generalsekretär. Er forderte stattdessen eine "Übergangsphase", an der unter anderem die USA und arabische Staaten involviert sein sollten.

Szenario 5: Verwaltung durch arabische Staaten

Auch Konfliktforscher Stetter würde ein anderes Szenario präferieren: Arabische Staaten könnten demnach die Verwaltung des Gazastreifens federführend im Verbund mit der Palästinensischen Autonomiebehörde übernehmen. "Das dürfte auch aus anderen Gründen im Interesse einiger arabischer Staaten stehen, nämlich derer, die starke Vorbehalte gegenüber der Muslimbrüderschaft haben, deren palästinensischer Ableger die Hamas ja ist. Ägypten ist gegen die Muslimbrüderschaft vorgegangen, in Saudi-Arabien und den VAE wird die Gruppe bekämpft."

Rauchsäulen über der Stadt Rafah im Gazastreifen
Israelische Vergeltungsluftangriffe auf den Gazastreifen, hier die Stadt Rafah, Oktober 2023Bild: SAID KHATIB/AFP

Auch wenn die offizielle Regierungsrhetorik in den genannten Ländern, getrieben von der anti-israelischen Stimmung in den Bevölkerungen, derzeit die Solidarität mit den Palästinensern und das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung in den Vordergrund stellt: "Eine Niederlage der Hamas dürfte in Riad und Kairo nicht ungern gesehen werden", glaubt Stetter.

Vor allem aber, so argumentiert der Konfliktforscher, könnten die Palästinenser bei einem solchen Szenario möglicherweise überzeugt werden, dass ihre grundlegenden Interessen - nationale Selbstbestimmung und Zweistaaten-Lösung - nicht unter die Räder gerieten. "Dafür braucht es aber gebündelte Kräfte, auch in Zusammenarbeit mit dem Westen und den UN." Neben politischer wäre wohl auch finanzielle Unterstützung wichtig, um ein solches Modell wirtschaftlich zu flankieren. Dieses Modell böte perspektivisch aber nicht nur den Palästinensern eine Perspektive, es würde auch Israel mehr Sicherheit bringen - meint Stetter.

Allerdings scheint angesichts der jetzigen Eskalation mit mehreren Tausend Toten eher unklar, ob und um welchen Preis selbst arabische Staaten mit offiziellen Beziehungen zu Israel derzeit bereit wären, das Risiko einer solchen Mission und ihres möglichen eigenen Scheiterns dabei auf sich zu nehmen. Möglicherweise könnte ein solches Modell eher mittelfristig ins Spiel kommen.

Dieser Artikel stammt ursprünglich vom 26.10.2023 und wurde am 21.11.2023 aktualisiert.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika