Wie robust ist Israels Wirtschaft?
17. November 2023Nach der Evakuierung aus ihren Wohnorten an der Grenze zum Gazastreifen sind Zehntausende Israelis in anderen Landesteilen untergebracht worden. Viele warten in Ferienwohnungen oder Hotels - etwa in Eilat am Roten Meer - auf ein Ende der Kampfhandlungen. Aus den nördlichen Grenzregionen zum Libanon sind ebenfalls viele Menschen in sicherere Landesteile geflohen oder gebracht worden. Insgesamt schwanken die Schätzungen über die Zahl der evakuierten Israelis zwischen 200.000 und 250.000.
Etwa 360.000 Reservisten wurden bislang einberufen, um gegen die Hamas, den Islamischen Dschihad oder die Hisbollah zu kämpfen - die Gruppen werden von westlichen, aber teils auch arabischen Staaten als Terrorgruppen eingestuft. In den Evakuierungszonen sind die Geschäfte geschlossen, die Unternehmen haben dicht gemacht.
Dazu kommt, dass seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober mit rund 1200 Todesopfern keine Touristen mehr ins Land kommen. Kaum eine ausländische Fluglinie fliege Israel noch an, sagt Dan Ben-David, Wirtschaftswissenschaftler an der Shoresh Institution und der Universität Tel Aviv im Gespräch mit der DW. Und das in einem Land, wo viele Menschen vom Tourismus leben. Das wirtschaftliche Leben sei tatsächlich so gut wie zum Stillstand gekommen, bestätigt der Ökonom. Aber wie kann der Staat Israel eine solche Situation überstehen?
"Die Tatsache, dass die Menschen evakuiert werden, bedeutet, dass sie irgendwo leben müssen. Und viele von ihnen sind in Hotels untergebracht, für die jemand bezahlen muss", sagt Ben-David.
All das habe man bislang im Griff. "Aber die Auswirkungen hängen von einer ganzen Reihe von Variablen ab: Wie lange wird der Krieg dauern? Wird die Hisbollah in den Krieg eingreifen? Und wenn der Krieg weitergeht, wie lange werden wir die Reservisten brauchen?"
Wenn 360.000 Menschen in der Armee sind, bedeute das, dass ihre Ehepartner auch nicht arbeiten können. Schließlich müsse sich jemand um die Kinder kümmern, zumal auch viele Schulen geschlossen sind, so Ben-David.
Israels Abhängigkeit von der Hochtechnologie
"In Israel arbeiten zwar nur etwa zehn Prozent der Beschäftigten in der Hochtechnologie, aber sie sind für über 50 Prozent unserer Exporte verantwortlich", erklärt der Professor der Universität Tel Aviv.
Diese Leute seien relativ jung, und ein großer Teil von ihnen sei in Gaza oder an der libanesischen Grenze in Uniform und arbeite nicht. Es gehe hier nicht um ein proportionales Problem, bei dem das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 20 Prozent sinkt, wenn 10 Prozent oder 20 Prozent der Arbeitnehmer in die Armee eingezogen werden, so Ben-David.
Es gehe vielmehr darum, wer diese Leute sind. Es sind vor allem junge, gut ausgebildete Menschen, die in der Armee dienen. Und das seien normalerweise diejenigen, die die höchste Produktivität haben. "Dagegen haben diejenigen, die nicht wehrpflichtig sind, zum Beispiel die Ultraorthodoxen oder die arabischen Israelis, eine sehr niedrige Produktivität", unterstreicht der Ökonom.
Gilad Malach, Direktor des Israel Democracy Institute, rechnet vor, dass fast die Hälfte aller ultra-orthodoxen Männer keiner Arbeit nachgehen. Sie leben mit ihren meist kinderreichen Familien von den milliardenschweren staatlichen Subventionen, die die ultra-orthodoxen Koalitionspartner von Regierungschef Netanjahu am liebsten noch weiter erhöhen würden.
Der wirtschaftliche Schaden ist deshalb umso größer, weil gerade die produktiven, gut ausgebildeten Israelis jetzt durch ihre Einberufung aus dem Wirtschaftsgeschehen komplett herausfallen. "Da wir so sehr von der Hochtechnologie abhängig sind, was sowohl gut als auch schlecht ist, haben wir alle unsere besten Eier in einen Korb gelegt", sagt Ben-David. Das bedeute, dass alle in Israel in Schwierigkeiten geraten, wenn die Hightech-Branche einen Rückschlag erleidet.
Hightech-Industrie als Retter in der Krise
In der Vergangenheit habe die Hightech-Branche Israel oft vor schlimmeren Auswirkungen ökonomischer Krisen bewahrt. Die Hochtechnologie sei dafür verantwortlich gewesen, dass Israel schneller aus Rezessionen herauskam oder Wirtschaftsabschwünge im Rest der Welt ganz vermeiden konnte.
Nach der zweiten Intifada (September 2000 bis Februar 2005, die Red.) habe das Land eine ganze Weile am Boden gelegen, bis die zahlreichen Selbstmord-Attentate zurückgingen und die israelische Armee die Kontrolle über das palästinensische Westjordanland militärisch durchgesetzt hatte.
"Aber der wirtschaftliche Aufschwung danach war phänomenal, weil Hightech der Hauptmotor des Wachstums war. Dann kam die große Rezession 2008 und 2009, die schlimmste Rezession in der westlichen Welt seit der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren. Aber Israel hat sie nicht einmal gespürt, weil die Hightech-Branche in der ganzen Welt sie kaum spürte. Und weil Hightech hier groß geschrieben wird, haben wir davon nichts gemerkt", unterstreicht Ben-David.
Ähnlich sei Israel durch die COVID-Pandemie gekommen. Von der Pandemie war jedes Land betroffen, in den Industrieländern hatten Millionen Menschen eine ganze Weile kaum gearbeitet. "Aber Israel hat sich schneller erholt als fast alle anderen OECD-Länder. Und wieder war es die Hightech-Branche, die weltweit nicht so betroffen war. Und da Hightech in Israel viel wichtiger für die Wirtschaft ist als anderswo, hat sich unsere Wirtschaft viel stärker erholt", resümiert der Ökonom.
Ben-Davids Fazit ist damit klar: Wenn der Krieg gegen die Hamas nicht zu lange andauert und die Hisbollah im Libanon nicht in den Krieg eintritt, dann könnte die israelische Wirtschaft wieder schnell zu alter Stärke zurückfinden.
Proteste gegen Justizreform bremsen Investitionen aus
Dass das so kommt, hängt nach Einschätzung des Ökonomen vor allem davon ab, ob Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seine Gefolgsleute künftig an der Macht bleiben oder nicht. Denn bis zum Massaker an israelischen Zivilisten am 7. Oktober hatten Massenproteste gegen Netanjahus Justizreform das Land in Atem gehalten.
"Es ist zwar nicht zu einem völligen wirtschaftlichen Stillstand gekommen, aber die Investitionen gingen deutlich zurück. Die Investitionen in den Hightech-Bereich gingen zurück, die Aktienkurse fielen. Viele Israelis zogen ihr Geld aus dem Land ab, der Schekel wurde erheblich abgewertet", so der Wirtschaftswissenschaftler.
Für Ben-David ist die eigentliche Frage, was nach dem Krieg passiert: "Wenn wir Netanjahu und seine Kumpane rauswerfen können und wieder für Ordnung sorgen, sollte die Hightech-Branche vermutlich intakt bleiben. Aber was geschieht, wenn nicht?"
Dann fließe nicht nur noch mehr Geld aus Israel ab, sondern dann würden auch viele Menschen und Hightech-Unternehmen dem Land den Rücken zukehren, befürchtet er.
Ein gewisser Trend habe sich bereits vor dem Krieg bei den Startup-Unternehmen abgezeichnet. Statt in Israel habe es in den ersten neun Monaten 2023 in den USA und anderswo die meisten Neugründungen von Israelis gegeben.
"Wenn diese Neugründungen dann reif sind und Geld verdienen, werden die Steuergelder nicht mehr nach Israel fließen, sondern dorthin, wo sie jetzt ihren Sitz haben", fasst Ben-David zusammen.
Dass eine Reihe von prominenten Hightech-Unternehmern mit Netanjahus politischem Kurs nicht einverstanden sind, habe man bei den Massenprotesten gegen die Justizreform gesehen. Viele Anführer der Demonstrationen kamen aus dem Hightech-Bereich, etwa die Unternehmer Moshe Radman oder Ami Dror. "Das Ungewöhnliche daran war, dass sich diese Hightech-Leute früher niemals auf etwas eingelassen hätten, das mit Politik zu tun hat. Sie waren einfach zu sehr damit beschäftigt, Ideen zu entwickeln und Geld zu verdienen. Sie wollten nichts mit der Politik zu tun haben. Aber als sie merkten, dass die Zukunft des Landes auf dem Spiel steht, haben sie gehandelt", so Ben-David. Sie waren die wichtigsten Geldgeber der Proteste.
Seine Befürchtung ist, dass wichtige Vertreter der Hightech-Branche Israel verlassen könnten, falls sich Netanjahu an der Macht halten kann. Daneben könnten auch viele Wissenschaftler oder Mediziner mit dem Gedanken spielen, aus Israel wegzugehen.
Eine weitere zentrale Figur der Proteste ist die bekannte Wissenschaftlerin Shikma Bressler. Die Physikerin ist Professorin am Spitzen-Forschungsinstitut Weizmann Institute of Science. Die 43-jährige Mutter von fünf Kindern, die zur prominenten Anführerin der Proteste gegen die Justizreform wurde, ist als Teilchen- und Astrophysikerin nicht nur in Israel tätig. Bressler forscht auch am europäischen Kernforschungszentrum CERN in der Nähe von Genf, das vor allem durch seinen Teilchenbeschleuniger bekannt ist.
Angst vor dem Brain-Drain
Dass die Gefahr einer Abwanderung von Akademikern real ist, habe man bereits vor dem 7. Oktober bei den Ärzten gesehen, sagt Ben-David. Im August und September haben viele israelische Ärzte beim Gesundheitsministerium offizielle Bescheinigungen darüber beantragt, welche Tätigkeit sie in der Medizin ausüben und wie lange sie schon arbeiten, berichtet der Ökonom. "Das ist immer der erste Schritt, um sich im Ausland zu bewerben und dort als Arzt zu arbeiten." Die Zahl dieser Anträge sei zuletzt sprunghaft angestiegen.
Dass Israels Politiker und Generäle den Krieg gegen die Hamas in sechs bis zwölf Monaten beenden wollen, heißt für Dan Ben-David nicht, dass 360.000 Menschen dauerhaft als Reservisten im Einsatz bleiben können. Die Armee müsse deshalb viel effizienter eingesetzt werden, "denn die Menschen müssen wieder arbeiten gehen, jemand muss hier Steuern zahlen und für seine Familie sorgen".
Enorme finanzielle Belastungen
Nach Informationen der Nachrichtenagentur Bloomberg kostet Israel der Krieg rund 260 Millionen US-Dollar pro Tag. Allein im Oktober ist das Haushaltsdefizit Israels um das Siebenfache in die Höhe geschnellt. Ende Oktober fiel die Landeswährung Schekel gegenüber der US-Währung auf ein Elf-Jahrestief, konnte sich aber nach Interventionen der Israelischen Notenbank mittlerweile wieder stabilisieren. Doch für den November hat das Finanzministerium in Jerusalem angekündigt, die staatliche Kreditaufnahme um weitere 75 Prozent nach oben zu schrauben.
"Israel ist ein Land im Krieg, in dem die Ausgaben explodieren, die Einnahmen sinken und die Kreditkosten steigen", bringt es Bloomberg-Kolumnist Marc Champion auf den Punkt.
Kleines Land mit großen Herausforderungen
Dan Ben-Davids Wohnort Kokhav Ya'ir in der Nähe der Stadt Kfar Saba im Zentrum Israels grenzt direkt an die "Grüne Linie". Die Waffenstillstandslinie, die nach dem Unabhängigkeitskrieg 1949 die Grenze des jüdischen Staates festlegte, markiert in diesem Teil Israels bis heute die Grenze zum Westjordanland. An dieser Stelle ist Israel nur rund 16 Kilometer breit und extrem angreifbar.
"Meine Gemeinde grenzt direkt an die Grüne Linie. Das bedeutet: Wenn sich das Westjordanland erhebt, sind wir direkt betroffen", gibt Ben-David zu bedenken.
Israel habe weder die territoriale Größe, noch genug Menschen, um lange Kriege zu führen. "Und deshalb müssen wir verheerend zuschlagen. Um Kriege so schnell wie möglich zu beenden."
Es sei denn, die Hisbollah greife im großen Stil in den Krieg ein, warnt er. "Die Hisbollah kann große Teile Israels plattbomben und regelrecht in einen Parkplatz verwandeln, aber wir können dem Libanon viel Schlimmeres antun", sagt Ben-David.
Er hofft auf das Gleichgewicht des Schreckens - dass die Gewissheit der sicheren gegenseitigen Zerstörung die Hisbollah davon abhält, "verrückt zu werden".
Sollte es dazu kommen, habe Israel keine andere Wahl, als massiv zurückzuschlagen. "Aber dann reden wir über eine völlig neue Situation, was die Wirtschaft hier betrifft."