Gaza: Wege und Umwege der Proteste
30. März 2019Friedlich hatten die Proteste zehntausender Palästinenser am Grenzzaun zu Israel werden sollen, so eine Vereinbarung zwischen Israel und der im Gazastreifen regierenden Hamas. Doch daraus wurde nichts: Nach palästinensischen Angaben ist ein 17 Jahre alter junger Mann bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit israelischen Soldaten erschossen worden. Zudem seien mindestens 244 Palästinenser verletzt worden, darunter zehn durch Schüsse, so das Gesundheitsministerium in Gaza und der Rettungsdienst Roter Halbmond am Samstag. Bereits am Morgen war ein Palästinenser seinen Verletzungen erlegen, die er bei Konfrontationen am Vorabend erlitten hatte.
Damit ist eine der wichtigsten Vereinbarungen zwischen Israel und der Hamas gefährdet. Nach der jüngsten Eskalation hatten sich einem Bericht der israelischen Zeitung "Haaretz" zufolge am Freitag beide Seiten auf Zurückhaltung verständigt. Die Hamas würde die Demonstranten davon abhalten, unmittelbar bis zum Zaun vorzudringen. Im Gegenzug würde die israelische Armee auf den Einsatz von Waffen so weit wie möglich verzichten.
Diese Abmachung, so ein namentlich nicht genannter Vertreter der Palästinenser gegenüber "Haaretz", sei von weiteren Vereinbarungen flankiert. So würde Israel die Übergänge zum Gazastreifen wieder öffnen, die den Palästinensern zugestandene Fischereizone erweitern und die Einschränkungen der Gütereinfuhr in den Gazastreifen aufheben. Tatsächlich, so "Haaretz", wolle Israel den Bewohnern Gazas durch einige Erleichterungen entgegenkommen. Dies soll zumindest bis zum 9. April geschehen, dem Tag der israelischen Parlamentswahlen. Bis dahin will die israelische Regierung Unruhen im Gazastreifen nach Möglichkeit vermeiden.
Israels Militär in der Kritik
Gelänge es, die Vereinbarung trotz der gewaltsamen Zwischenfälle am Samstag aufrechtzuerhalten, würde dies einen neuen Akzent im Umgang beider Seiten mit den seit einem Jahr anhaltenden Demonstrationen der Palästinenser am Zaun zu Israel setzen - einem Zaun, der keine offizielle Landesgrenze markiert, weil Palästina international nicht als Staat anerkannt ist.
Am 30. März 2018 hatten sich dort erstmals Demonstranten versammelt, um gegen die Blockade des Gazastreifens zu protestieren, die Israel verhängt hat und die Ägypten ebenfalls aufrechterhält. Der 30. März gilt den Palästinensern als "Tag der Erde". Er erinnert an den Tod sechs israelischer Palästinenser am 30. März 1976, die gegen die Enteignung ihres Bodens demonstrierten und von Sicherheitskräften erschossen wurden.
Die Gewalt jenes Tages setzte sich auch beim "Marsch der Rückkehr" in Gaza fort: Seit Beginn der Proteste vor einem Jahr wurden nach Auskunft des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) bis zum 22. März dieses Jahres 195 Palästinenser getötet und 29.000 Bewohner Gazas verletzt. Das UNRWA macht für sämtliche Fälle das israelische Militär verantwortlich. Laut Nachrichtenagenturen gab es in den vergangenen zwölf Monaten knapp 260 palästinensische und zwei israelische Opfer.
Auch die israelische, für Aussöhnung mit den Palästinensern arbeitende Menschenrechtsorganisation B'Tselem erhebt in einer Erklärung vom März dieses Jahres schwere Vorwürfe gegen das israelische Militär. Die Todesfälle seien "ein direktes Resultat der offenbar ungesetzlichen Schießbefehle, die den Soldaten vor Ort gegeben wurden". Zugleich forderte B'Tselem die internationale Staatenwelt auf, dieses Vorgehen zu verurteilen. "Die internationale Gemeinschaft muss ihre gesamte Macht und ihren Einfluss geltend machen, um Israel zu zwingen, das Feuer einzustellen und seine Politik zu verändern."
Hamas und die Protestbewegung
Das israelische Militär verteidigt sich auf seiner Website. Die dort aufgeführten Argumente führen direkt in das Herz der Debatte um die Ursprünge der Protestbewegung in Gaza.
Die Demonstrationen, erklärt in dem unabhängigen Internetportal "+972" der palästinensische Politanalyst Tareq Baconi, seien ursprünglich von einer Gruppe von rund 20 überwiegend säkular oder linken Aktivisten ausgegangen. Viele Palästinenser hätten diese Aktionen mit großen Hoffnungen beobachtet, da sie eine neue politische Kultur zeigten. "Die Palästinenser befinden sich an einer Wegscheide", so Baconi. "Anstatt ihren Staat zu fordern, fordern sie nun ihre Rechte. Es ist eine Entwicklung hin zu einer Bürgerrechtsbewegung, und Gaza weist dabei den Weg."
Dann aber, so Baconi weiter, habe die Hamas die Führung der Bewegung übernommen. "Ich glaube, die Hamas interveniert in allem. Aber die Hamas stattete die Bewegung auch mit der nötigen Infrastruktur aus, so dass sie expandieren konnte."
Die Argumente der Armee
Diese Analyse deckt sich - wenn auch eher unfreiwillig - mit der des israelischen Militärs, der Israeli Defensive Forces (IDF). Die Hamas habe die Bewegung gekapert, so die Darstellung der IDF. Sie sehen die Hamas als hochgradig gefährliche Organisation.Im gesamten Jahr habe die Hamas über 1300 Raketen und Mörser auf die israelische Zivilbevölkerung abgefeuert. Zudem hätten die IDF seit Ende 2017 insgesamt 17 Tunnel neutralisiert, viele davon in Grenznähe. Durch die Tunnel gelangen Dinge des täglichen Lebens ebenso in den blockierten Gazastreifen wie Waffen.
Die Hamas habe die (so die IDF) "angeblich" zivile Initiative am Grenzzaun unterwandert. Demonstranten hätten bald Molotowcocktails, Granaten und andere explosive Gegenstände abgefeuert. "Unter dem Schutz dieser Gewalt kam es auch zu Durchbrüchen in die israelische Verteidigungsinfrastruktur, gefolgt von Infiltrationen auf israelisches Territorium und Angriffe auf Kräfte und Positionen der IDF wie auch auf die militärische Infrastruktur. Diese Durchbrüche drohten sich zu Massendurchbrüchen in die Sicherheitsinfrastruktur und eine massenhafte Infiltration nach Israel zu entwickeln." Dem hätten die IDF vorgebeugt.
Auch nutze die Hamas die hohen Opferzahlen zu propagandistischen Zwecken. Ziel sei es, die Einsätze des Militärs zu delegitimieren.
Die Zukunft der Proteste
Offen ist, wie sich die Demonstrationen langfristig entwickeln. Die Proteste seien für die Hamas durchaus riskant, schreibt die israelisches Tageszeitung "Haaretz" mit Blick darauf, dassbessere Lebensbedingungen im Mittelpunkt der Bewegung "Wir wollen leben" stehen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sich auch die Demonstrationen am Grenzzaun irgendwann gegen die Hamas wenden.