Der unangepasste Präsident
18. März 2012Eigentlich wird das, was Joachim Gauck im öffentlichen Bewusstsein vor allem ist, gar nicht mehr gebraucht: ein ostdeutscher Bürgerrechtler. Die Diktatur, gegen die er sich gestellt hatte, ist Geschichte und - nicht zuletzt dank Gauck - weitgehend aufgearbeitet. Die Lücke einer ersten ostdeutschen Regierungschefin wurde mit Angela Merkel als Bundeskanzlerin gefüllt. Und doch lief das Amt des Bundespräsidenten jetzt, 2012, geradewegs auf ihn zu.
Schon 1999 war Joachim Gauck erstmals dafür ins Gespräch gekommen. Damals war er bekannter als manch ein Minister der noch jungen Regierung Gerhard Schröder. Er war seit fast neun Jahren "Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR" und damit Leiter eines Amtes, das meist einfach "Gauck-Behörde" genannt wurde. Bis zu 2700 Mitarbeiter unterstanden ihm. Sie bearbeiteten die umfangreichen Akten der Stasi, gewährten hunderttausenden Bürgern Einsicht in deren persönliche Stasi-Akte und überprüften Bewerber für öffentliche Ämter auf mögliche Stasi-Verwicklungen - wofür sich das Verb "gaucken" eingebürgert hatte.
Parteipolitisch unabhängig
Damals, 1999, hätte der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber gern Gauck als Kandidaten des bürgerlichen Lagers gegen den von den Grünen unterstützten Sozialdemokraten Johannes Rau ins Rennen um die Präsidentschaft geschickt. Doch damals lehnte Gauck ab. Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse hätte er auch kaum eine Chance gehabt. Die hatte er allerdings realistischerweise auch 2010 nicht, als ihn Sozialdemokraten und Grüne überraschend nominierten.
2010 war Gauck längst nicht mehr so bekannt: Als Chef der "Gauck-Behörde" war er schon zehn Jahre zuvor von der Grünen Marianne Birthler abgelöst worden, hatte sich mit begrenztem Erfolg als Moderator einer Talkshow versucht und war 2003 Vorsitzender des Vereins "Gegen Vergessen – für Demokratie" geworden, der sich für die Aufklärung über die Verbrechen der Nationalsozialisten und des SED-Regimes einsetzt. Vor allem aber war Gauck all die Jahre gefragter Vortragsreisender und Interviewpartner geblieben, mit Anerkennung weit ins bürgerliche Lager hinein.
Am Ende lief alles auf ihn zu
Mit der Nominierung Gaucks im Jahr 2010 wollten SPD und Grüne Angela Merkel und ihre christlich-liberale Koalition in Verlegenheit bringen. Bundespräsident Horst Köhler war überraschend zurückgetreten, und Gauck mag gehofft haben, dass sich die regierenden Christdemokraten und Liberalen auf das Angebot der Opposition einlassen würden, ihn als Konsenskandidaten mitzutragen. Doch das passte Merkel erwartungsgemäß nicht ins Konzept. Sie wollte einen eigenen Kandidaten durchsetzen und so ein Zeichen der Handlungsfähigkeit ihrer gerade erst holprig gestarteten Koalition setzen. So wurde Christian Wulff gewählt - zwar erst im dritten Wahlgang, aber doch deutlich mit
625 : 494 Stimmen.
Die Ausgangslage für das Merkel-Lager in der Bundesversammlung, die das Staatsoberhaupt wählt, hat sich zwar seitdem verschlechtert, aber für die Mehrheit eines eigenen Kandidaten im dritten Wahlgang hätte es wohl auch diesmal gereicht. Doch die Koalition tat sich schwer, einen solchen Bewerber zu finden, während Rot-Grün erneut Joachim Gauck ins Gespräch brachte. Als dann die FDP mit dem Beschluss vorpreschte, Gauck ebenfalls zu unterstützen, blieb Merkel und ihrer Union nichts anderes übrig, als ihn mitzutragen.
Merkel wird mit ihm leben können
Ironischerweise hat Angela Merkel nun einen Bundespräsidenten bekommen, den sie zuerst nicht wollte, aber mit dem sie besser klar kommen wird als Sozialdemokraten und Grüne, die ihn zwei Mal aufs Schild gehoben haben. Gauck selbst bezeichnete sich einmal als "linken, liberalen Konservativen", im Zentrum seines Denkens aber steht ein liberaler Freiheitsbegriff, der mit dem des linken Lagers nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen ist.
Gauck kritisierte die "Occupy-Wall-Street"-Bewegung, die eine strenge Regulierung der Banken fordert, als "unsäglich albern". Thilo Sarrazin, der im Sommer 2010 mit einem Buch über die gescheiterte Integration muslimischer Zuwanderer Furore machte, nannte er "mutig". Freilich distanzierte sich Gauck schon damals und auch zuletzt wieder deutlich von den umstrittensten Thesen Sarrazins; sein Lob galt dem Verstoß Sarrazins gegen Regeln der Political Correctness. Denn das gehört zu Gaucks Freiheitsbegriff: jede Art von Denkverboten abzulehnen.
Verhaftung des Vaters prägt sein politisches Denken
Gauck war als Kind geprägt von der Verschleppung seines Vaters in ein stalinistisches Arbeitslager im Jahr 1951. Er war damals elf Jahre alt. Sein Berufswunsch Journalist war ihm in der DDR verwehrt, stattdessen studierte er evangelische Theologie. In der Kirche fand er einen gewissen Freiraum. Diesen verstand er so weit zu nutzen, dass er zwar ständig im Visier der Staatssicherheit war, es aber zu keiner Verhaftung kam. In einem der zahlreichen Stasi-Dokumente über ihn heißt es, es handele sich "um einen unbelehrbaren Antikommunisten, der den Sozialismus/Kommunismus nur als zeitweilige Erscheinung ansieht und sein Amt im feindlich-negativen Sinne missbraucht".
Als Pfarrer in Rostock fiel Gauck immer wieder durch kritische Predigten auf. 1989 leitete er die wöchentlichen Gottesdienste zur Veränderung der Gesellschaft, aus denen im Herbst die Rostocker Massendemonstrationen hervorgingen. Bei der ersten freien Parlamentswahl in der DDR im März 1990 kam er als Abgeordneter der Bürgerbewegungen, die sich im Bündnis 90 zusammengeschlossen hatten, in die Volkskammer. Dort leitete er den Sonderausschuss zur Überprüfung der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit. Am 2. Oktober 1990, dem Tag vor der Wiedervereinigung, wählte ihn die Volkskammer zum Chef der Behörde für die Stasi-Unterlagen, die dann als Bundesbehörde weitergeführt wurde.
Andere DDR-Bürgerrechtler warfen Gauck in der Vergangenheit vor, mehr laviert als opponiert zu haben. Doch das dürfte in seiner Amtsführung bald keine Rolle mehr spielen. Joachim Gauck, der neue Mann an der Spitze Deutschlands: Jetzt darf man gespannt sein.