Wolfgang Ischinger empört sich
Das vor einer Woche vom Nachrichtenmagazin 'Der Spiegel' veröffentlichte Interview mit Wolfgang Ischinger kann man schon fast als revolutionär bezeichnen. Der angesehene Diplomat und langjährige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz ist offenbar zu einer Einsicht gelangt - und er sieht sogar "das Ende für die Idee der strategischen Partnerschaft mit Russland" gekommen. Der Grund, oder Trigger, wie man jetzt gerne sagt, für eine solche kopernikanische Wende war: die Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny.
Nein, nicht die Annexion der ukrainischen Krim durch Russland, nicht die groß angelegte Invasion im Donbass, nicht die abgeschossene malaysische Passagiermaschine des Fluges MH17 und nicht die heimtückische massenhafte Erschießung Hunderter unbewaffneter Menschen bei Ilowajsk. Jene Ereignisse - oder besser gesagt: die Kriegsverbrechen von 2014 - haben Wolfgang Ischinger nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Idee der strategischen Partnerschaft blieb für ihn trotz alledem auf der Tagesordnung. Doch plötzlich: Nawalny liegt im Koma! Und Welt steht Kopf.
Der Mensch hinter Ischinger tritt zum Vorschein
Fairerweise muss man anmerken: Wolfgang Ischinger erinnert sowohl an das blutige Jahr 2014 als auch an einige andere Exzesse mit russischer Handschrift, wie das Attentat auf den Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter in Großbritannien, die Ermordung eines "Exiltschetschenen" im Berliner Tiergarten und den Hackerangriff auf den Bundestag. Gerne möchte man denken, all dies seien Etappen seiner, nach meiner Überzeugung sehr zögerlichen Einsicht gewesen, die schließlich mit der Vergiftung von Putins "erbittertsten Gegner" durch unsichtbare Täter gekrönt wurde.
Ischinger ist empört, und zwar in einem solchen Maße, dass hinter dem Diplomaten - einem der hervorragendsten und erfahrensten, die Deutschland hat - einfach der Mensch zum Vorschein tritt. Und dieser Mensch braucht keine Beweise mehr. Er sieht das Wichtigste: "In Moskau macht man sich über das Opfer lustig." Und dies ist die Wahrheit, eine ziemlich bittere, und zugleich der deutlichste Beweis. Aber ist Alexej Nawalny das einzige Opfer, das von Moskau verspottet wird? Ist dieser Spott - außer, dass er der deutlichste Beweis ist - nicht auch eine Art Markenzeichen, eine Handschrift des Mörders?
Empörung ist aber nicht der beste Zustand, um etwas tiefgreifend analytisch zu durchdringen. So gewinnt auch Wolfgang Ischinger wieder seine Fassung und kehrt für eine Weile zu den bekannten Thesen der faktischen Ohnmacht gegenüber Russland zurück. Zum Beispiel sagt er abermals zu neuen Sanktionen gegen die herrschende Elite Russlands diplomatisch: "Man sollte sich nicht der Hoffnung hingeben, dass das in Moskau tiefen Eindruck hinterlässt."
Nachdenken über den Ausstieg aus Nord Stream 2
Während er einen plötzlichen Ausstieg Deutschlands aus dem Projekt Nord Stream 2 nicht mehr ausschließt, tritt er sogleich verzweifelt heftig auf die Bremse, dass die Reifen quietschen: "Wie sehr schaden wir uns dann selbst - und deutschen Firmen?" Und mit dem nächsten Satz begräbt er jede Hoffnung auf Sanktionen: "Sanktionen sind das Mittel, das Regierungen gern anwenden, wenn ihnen sonst nicht mehr viel einfällt." Und dann völlig hoffnungslos: "Egal ob in Syrien, Libyen, in der Ukraine oder in Iran - gegen den Willen Putins kommen wir bei entscheidenden Fragen nicht voran."
Hier, so könnte man meinen, könnte man Schluss machen und Ischingers Interview nicht weiterlesen, in der Erkenntnis, dass das Revolutionäre zu Beginn nur eine flüchtige Emotion war, mit der der professionelle Geist vorhersehbar gut fertig wurde. Doch die Fragen der Journalisten nach der Lage in Belarus machen es wieder spannend, und Ischinger scheint sich erneut auf seltsame Weise zu wandeln und wächst in meinen Augen. Er scheint sich wieder von der hypnotischen Wirkung von "Putins Willen" zu befreien: "Mich erinnert Russland manchmal an den Scheinriesen Tur Tur aus dem Kinderbuch 'Jim Knopf' von Michael Ende. Aus der Ferne betrachtet, wirkt Putin allmächtig, er kontrolliert Syrien, er mischt in Belarus mit. Doch je näher man ihm kommt, desto kleiner wird der Riese."
Soft Power ohne Hard Power
An dieser Stelle bekommt Ischinger von mir einen großen Pluspunkt und ich stelle in mir die entsprechende Reflexion fest: Wir in der Ukraine grenzen am allernächsten, ja direkt an Putin. Vielleicht ist er deshalb in unseren Augen kein Riese, sondern nur ein Zwerg
Allerdings ist dies nur eine Beiläufigkeit, denn der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz erreicht bei der nächsten These wieder den anfänglichen Drive und sagt: "Wir sind die Meister der Soft Power. Aber Soft Power ohne Hard Power ist wie eine Fußballmannschaft ohne Torwart." Ich denke, ohne Stürmer wäre passender, aber ich lese weiter: "Wir müssen unsere Interessen verteidigen können, wir müssen gegenüber Männern wie Wladimir Putin weniger erpressbar werden. Das heißt nicht etwa, dass wir militärische Macht offensiv einsetzen sollten, aber wir müssen wirksam abschrecken können."
Den Aggressor abschrecken, nicht beschwichtigen oder schmeicheln, das ist ein sehr vielversprechender Ansatz. Dies ist zweifelsohne ein Fortschritt im Vergleich zu den immer noch vorherrschenden Postulaten der deutschen Außenpolitik, wo nicht jahrelang, sondern jahrzehntelang um jeden Preis harte Worte vermieden wurden, insbesondere in Richtung Russland.
Rückkehr zum gewohnten Trott?
Die Einsicht, die Wolfgang Ischinger im Rahmen von nur diesem einen Interview an den Tag legt, ist möglicherweise nur vorübergehend. Nawalny wird, mit Gottes Hilfe, hoffentlich genesen. Doch die Beteiligung des Kremls an dem Attentat bleibt vielleicht im Dunkeln, und dann könnte es irgendwann heißen, dass es überhaupt kein Attentat gewesen sei. Dann wird alles wieder aufweichen und in den gewohnten Trott der vom alten Diplomaten aufgeregt verworfenen "Idee strategischer Partnerschaft" zurückkehren. Möglich, sogar sehr möglich.
Aber merken wir uns dieses Interview und versehen es mit einem Lesezeichen. Nur für alle Fälle, denn man könnte es unverhofft brauchen.
Jurij Andruchowytsch ist ukrainischer Schriftsteller, Dichter, Essayist und Übersetzer. Er gilt heute als eine der wichtigsten kulturellen und intellektuellen Stimmen seines Landes. Andruchowytschs Werke werden international übersetzt und verlegt.
Übersetzung: Markian Ostaptschuk