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Warum ich wütend auf Deutschland bin

Filmemacherin Sharon Ryba-Kahn
Sharon Ryba-Kahn
7. Mai 2020

Die meisten Deutschen glauben, dass die Shoah nichts mit ihrer eigenen Familie zu tun hat. Es ist Zeit, dass sie sich mit ihren Familiengeschichten auseinandersetzen, meint die jüdische Filmemacherin Sharon Ryba-Kahn.

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Sharon Ryba-Kahn und ihr Vater stehen im Dokumentarfilm "Displaced" am Grab des Großvaters.
Szene aus "Displaced": Sharon und ihr Vater besuchen das Grab des Großvaters Chaim Ryba in IsraelBild: Tondowski Films

Ich habe die Gelegenheit bekommen, darüber zu schreiben, wie es sich anfühlt, als dritte Generation Überlebender in Deutschland zu wohnen. Ironischerweise wissen Sie schon jetzt, dass meine Großeltern Holocaust-Überlebende sind - ehe ich mich vorgestellt, Ihnen meinen Namen, Beruf oder Geburtsort genannt habe.

Deutschland, das Land der Täter

Ich bin in München geboren. Aber ich habe mich nie in Deutschland zuhause gefühlt, weder als kleines Mädchen noch als Erwachsene - obwohl ich hier wohne. Ich habe oft das Bedürfnis zu vergessen, wo ich bin. Dafür gibt es viele Gründe, aber der entscheidende ist, dass ein Teil von mir Deutschland immer als das Land der Täter betrachten wird.

Deutschland ist der Ort, wo der Nationalsozialismus einen fruchtbaren Boden fand mit Menschen, die ihn unterstützten. Hier ist der Ort, wo alles begann. Für meine Familie und mich bedeutet das konkret, dass wir mehr Verwandte verloren haben, als ich an meinen beiden Händen abzählen könnte. Ich frage mich: Muss ich die sechs Millionen noch einmal erwähnen oder kann ich sie vernachlässigen? Oder noch schlimmer: Würden Sie sie gern vergessen? Sehen Sie meine Wut?

Kein Opfer

Denken Sie gerade von mir, dass ich ein Opfer bin? Ich bin kein Opfer. Ich bin die Enkelin von Holocaust-Überlebenden, von Menschen mit einer unglaublichen Widerstandskraft, die gekämpft haben, um am Leben zu bleiben. Und die das Glück hatten, zu überleben. Nach dem Horror der Shoah haben sie schließlich dafür gekämpft, ihr Leben zu leben. Meine Großeltern sind die stärksten Menschen, die ich kenne.

Beim Schreiben dieser Worte habe ich einen klaren Adressaten vor Augen: die zweite und dritte Generation der Holocaust-Täter. (Die erste Generation lasse ich außen vor, weil ich glaube, dass diese entweder im Gefängnis sitzen sollte oder verstorben ist. Tatsächlich haben viele nie ein Gericht gesehen.) 

Wenn meine Worte für Sie hart klingen, dann deshalb, weil die Vergangenheit, die uns verbindet, hart ist.

Die Erfahrung spürbar machen

Meine Wut und Hilflosigkeit gegenüber Deutschland waren der Hauptantrieb, meinen Dokumentarfilm "Displaced" zu drehen. Ich habe versucht - wie so viele andere vor mir aus allen drei Generationen - die emotionale und kognitive Erfahrung der Überlebenden und Nachfahren durch den Film spürbar zu machen. 

Warum? Weil ich immer das Gefühl hatte, dass viele Täter-Nachkommen diese Vergangenheit als weit entfernt betrachten und zwischen ihr und sich keinen Zusammenhang sehen. Ich habe beobachtet, dass die Nachkommen der Täter den Holocaust wie eine Seite im Geschichtsbuch behandeln.

Damit meine ich, dass es keine persönliche, familiäre Verbindung zum Holocaust für sie gibt. Es geschah aus ihrem Standpunkt schließlich vor langer Zeit… So beschreibt es auch ein Protagonist aus "Displaced", der mir erzählte, wie er in der Schule über den Holocaust lernte.

Porträt der Filmemacherin Sharon Ryba-Kahn.
Sharon Ryba-KahnBild: Stephan Pramme

Aber dieser fehlende Bezug, dieses Schisma, nimmt viele Formen an. Viele nicht-jüdische Deutsche - das ist ein Ergebnis persönlicher Erfahrungen - finden den Holocaust zwar absolut schrecklich, sehen ihn aber losgelöst von ihrem persönlichen Narrativ. Sie kennen ihre Familiengeschichte nicht und haben auch nie versucht, sie kennenzulernen.

Ein Narrativ überlagert das andere

Daneben gibt es das Narrativ, das den Eindruck erweckt, Hitler habe es geschafft, sechs Millionen Juden alleine und ohne Hilfe zu töten. Sehr häufig wird erzählt, dass deutsche Familien selbst so sehr unter dem Krieg gelitten hätten, dass sie offenbar zu sehr mit ihrem eigenen Schmerz beschäftigt waren, um etwas mit dem Völkermord oder der Nazidiktatur zu tun zu haben. Das Schicksal der Opfer scheint aus ihren Köpfen gelöscht und hat mit ihrer eigenen Lebenswelt nichts zu tun.

Das andere Extrem besteht im Glauben daran, dass Schuldgefühle in irgendeiner Weise hilfreich seien. Glauben Sie wirklich, dass Ihre Schuld das, was meiner Ur-Ur-Großmutter mütterlicherseits, Marie Gruenbaum, widerfahren ist, wieder gut machen kann. Sie wurde mit ihrem Bruder in Vichy in Frankreich am 24. April 1944 von der Gestapo verhaftet und am 1. Mai 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert.

"Tag der Befreiung" - ein ironischer Begriff

Dies führt mich zum 8. Mai, dem "Tag der Befreiung". Was für ein ironischer Begriff: "Befreiung".

Könnte tatsächlich jemand auf die Idee kommen, dass es möglich ist, sich von den Folgen dessen zu befreien, was die Täter von Auschwitz-Birkenau getan haben? Dass man sich davon befreien kann, wie man als Kind auf einem Dachboden versteckt wurde, der so klein war, dass man kaum atmen konnte? Dass man sich davon befreien kann, wie man zusah, als die eigene Familie getötet wurde oder man der einzige Überlebende ist? Könnte wirklich jemand glauben, dass man sich von all diesen Bildern, Erinnerungen und Verlusten befreien kann?

Meine Freundin Romina, die auch eine Protagonistin meines Films "Displaced" ist, erklärt: Viele jüdische Menschen haben schlichtweg nicht das Privileg, sich aussuchen zu können, ob sie über die Shoah nachdenken oder nicht. Ich würde hinzufügen, wir tun es einfach. Wir tragen eine Verantwortung in uns. Sie besteht darin, der Ermordeten und Überlebenden zu gedenken.

Und als ich Romina im Film frage: "Bist du manchmal der Geschichte überdrüssig?", antwortet sie wunderschön: "Sicher. Sehr oft. Aber ich habe keinen Schalter, um es abzustellen."

Sharon Ryba-Kahn steht im Film "Displaced" auf dem jüdischen Friedhof von Bedzin, Polen.
In ihrem Film besucht Sharon den jüdischen Friedhof in Będzin, Polen. Dort lebten ihre Großeltern väterlicherseits und deren Familien, bevor sie deportiert wurden.Bild: Tondowski Films

Lernen aus der Vergangenheit ist alternativlos

Romina hat mich daran erinnert, dass es kein Zufall ist, dass ich mich mit ihr identifiziere. Es geht hier um die Unterschiede zwischen der kollektiven Erfahrung der Generationen von Überlebenden und Tätern. Wir, die nachfolgenden Generationen von Überlebenden und Tätern, sind nicht für die Handlungen unserer Eltern und Großeltern verantwortlich, aber wir alle sind ein Produkt dessen, wer sie waren und sind, und sind für unsere Gegenwart und die Bausteine unserer Zukunft verantwortlich.

Es haben schon viele vor mir Worte wie diese geschrieben. Dieser Text ist nur eine bescheidene Erinnerung. Natürlich gibt und gab es auch immer wunderbare Menschen und Ausnahmen auf Seiten der Täter - aber sie bleiben die Minderheit. Wenn Sie - die Leserinnen und Leser - nicht bereit sind, das, was ich geschrieben habe, zu fühlen und zu denken, wenn Sie nicht bereit sind, es zu Ihrer eigenen Geschichte zu machen, dann sind meine Worte nutzlos. 

Ich versuche, der zweiten und dritten Tätergeneration einen Spiegel vorzuhalten, damit ich Ihnen in die Augen schauen kann. Sie müssen verstehen, dass Sie diese Geschichte persönlich betrifft. Dann gibt es die Chance auf einen Dialog. Lassen Sie mich Sie fragen: Welche Alternative gibt es, als immer wieder zu versuchen, aus der Vergangenheit zu lernen?

Sharon Ryba-Kahn ist eine französisch-israelische Dokumentarfilmerin. Sie wurde am 7. Mai 1983 in München geboren und lebt derzeit in Berlin. Für ihren zweiten Dokumentarfilm "Displaced" reist sie nach Polen und Israel, um zu verstehen, wie sich die Shoah auf die Familie ihres Vaters ausgewirkt hat. Der Blick in die Familienvergangenheit führt sie letztlich dazu, sich mit ihrem eigenen Leben auseinanderzusetzen und die Frage nach dem Umgang mit der Vergangenheit an ihr nicht-jüdisches Umfeld zu stellen. "Displaced" feierte seine Weltpremiere im deutschen Wettbewerb der Online-Ausgabe des DOK.fest München am 7. Mai.

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