Britische EU-Gegner profitieren von Calais
Es sind die einschlägigen Bilder aus Calais, die den britischen EU-Gegnern Zündstoff für das kommende Referendum über Großbritanniens Mitgliedschaft in der Europäischen Union liefern. Bilder von inzwischen bis zu 5000 Menschen in den Flüchtlingscamps im nordfranzösischen Calais. Und Videos, die zeigen, wie Flüchtlinge Abend für Abend versuchen, durch den Ärmelkanal-Tunnel nach Großbritannien zu gelangen.
Doch nicht allein die Bilder aus Calais bereiten dem britischen Premierminister David Cameron Probleme. Selbst wenn es sie nicht gäbe, würden die britischen EU-Gegner von der emotional geführten Flüchtlingsdebatte auf der Insel profitieren. Seit der Erweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 ist es den britischen EU-Skeptikern - allen voran der von Nigel Farage geführten rechtspopulistischen UKIP - gelungen, die britische EU-Mitgliedschaft mit der Flüchtlingsfrage zu verknüpfen.
Vor 2004 hat eigentlich niemand im Zusammenhang mit der EU-Mitgliedschaft über Flüchtlinge gesprochen. Die Reisefreiheit sah man weitgehend im Einklang mit britischen Interessen - oder verstand sie zumindest als nützlich für alle Seiten. Doch in den sieben Jahren nach der EU-Erweiterungsrunde sind schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen aus den acht neuen EU-Mitgliedsstaaten nach Großbritannien eingereist. Mit einem derartigen Ausmaß an Zuwanderung hatte die Regierung nicht gerechnet - die Behörden hatten offenbar nur bis zu 10.000 Migranten pro Jahr prognostiziert. Außerdem wurde nicht vorhergesehen, was dies für die britische Debatte über Zuwanderung bedeutet. Das Ergebnis war, dass Labour-Partei und konservative Tories einer damals aufkommenden Behauptung viel zu lange keinen Einhalt boten: nämlich jener, dass die EU-Mitgliedschaft Großbritannien die Kontrolle über die eigenen Grenzen entziehe.
Angst vor dem Kontrollverlust
Und obwohl es kaum Anlass gibt, zu glauben, ein britischer EU-Ausstieg könne die Flüchtlingssituation verbessern, weichen die Euroskeptiker nicht von ihrer Grundsatzauffassung ab, Großbritannien habe die Kontrolle über seine Grenzen verloren. Dass die meisten Migranten, die über Calais nach Großbritannien gelangen wollen, aus Ländern außerhalb Europas stammen, hält sie nicht davon ab, die Flüchtlingsfrage mit der Debatte um die EU-Mitgliedschaft zu vermischen.
Pro-Europäer müssen daher nun einen Weg finden, um klarzustellen, dass ein britischer EU-Austritt nichts an der Situation ändern würde. Migranten aus Staaten außerhalb der Europäischen Union würden weiterhin nach Calais reisen. Und ohne britische Grenzkontrollen in Frankreich - die es bei einem Brexit nicht mehr gäbe - würde Dover zum neuen Calais.
All die Gruppen, die für einen britischen EU-Verbleib ins Feld ziehen, sind genau hier in den kommenden Monaten gefordert. Ihre Kampagne braucht mehr Flexibilität. Und mehr politische Unterstützung als jene von Cameron. Sie muss deutlich machen, dass Großbritannien nicht das einzige Land ist, das sich mit einem Flüchtlingsproblem konfrontiert sieht, sondern dass es sich um eine globale Flüchtlingskrise handelt.
Eins darf nicht vergessen werden: Nach Angaben der Vereinten Nationen hat Deutschland im vergangenen Jahr mehr als 202.000 Asylbewerber aufgenommen. Dahinter folgen Schweden, Italien, Frankreich, Ungarn und schließlich Großbritannien. Um der Lage Herr zu werden, ist ein gemeinsamer EU-Ansatz notwendig. Doch zuvor ist eine ehrliche Diskussion nötig über die Zuwanderung von Menschen außerhalb der EU sowie ernsthafte Gespräche über eine gerechte Lastenverteilung.
Großbritannien kann es sich ebenso wenig wie andere EU-Mitgliedsstaaten leisten, die Krise in der europäischen Nachbarschaft einfach zu ignorieren. Gleichzeitig werden sich Cameron und seine europäischen Kollegen langfristigeren Fragen wie dem Kampf der politischen Instabilität in der EU-Nachbarschaft erst widmen können, wenn sie sich den Sorgen ihrer Wähler in der Heimat stellen. Für Cameron und die EU-Befürworter wird es im Vorfeld des Referendums in Großbritannien nur ein schwacher Trost sein, dass sie mit dem Flüchtlingsproblem nicht alleine sind.
Laura Kelleher ist Expertin für britische EU-Politik bei der Denkfabrik "European Council on Foreign Relations" (ECFR).
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