Gastbeitrag: Wiederholt sich die Geschichte auf dem Balkan?
3. Mai 2024Die Symbolik war bedrohlich: Milorad Dodik, der bosnische Serbenführer und Präsident des serbisch-dominierten Teils Bosnien und Herzegowinas, der Republika Srpska (RS), kündigte im Beisein von höchsten Belgrader Regierungsvertretern Mitte April an, er sehe "keinen Sinn, in Bosnien zu bleiben". "Wir werden unabhängig vorangehen", so Dodik. Zugleich behauptete Dodik, wie so oft, dass es keinen Völkermord in Srebrenica gegeben hätte.
Doch nun haben Ruanda und Deutschland bei den Vereinten Nationen eine Resolution eingebracht, in der die UN-Generalversammlung den 11. Juli zum internationalen Srebrenica-Genozid-Gedenktag deklarieren soll. Regierungsvertreter Serbiens und der RS laufen Sturm gegen diese Resolution, die sie als kollektive Brandmarkung des serbischen Volkes verstehen.
Verstörend sind Dodiks Spekulationen, wie mit den 150.000 bosniakischen Rückkehrern in der RS zu verfahren sei - also jenen bosnischen Muslimen, die während des Krieges von 1992 bis 1995 vertrieben worden waren und nach dem Krieg wieder zurückkehrten. Nachdem Dodik kürzlich gesagt hatte, dass die Bosniaken, die über 50 Prozent der Bevölkerung Bosnien und Herzegowinas ausmachen, auf 25 Prozent des Territoriums leben sollten, warnte er, dass im Falle der Annahme der UN-Resolution die einzige Option sei, sich friedlich von Bosnien und Herzegowina zu trennen. "Die Menschen in der RS sind verärgert und werden es nicht akzeptieren, mit bosnischen Muslimen zu leben", so Dodik.
Völkermord-Leugnung gehört zum Stammrepertoire
Dodiks 25-Prozent-Aussage erinnert in bedrückender Weise an die Rhetorik, die den ethnischen Säuberungen im Bosnien-Krieg vorausging. Die systematisch und gut geplanten Massenverbrechen hatten zum Ziel, in weiten Teilen Bosnien und Herzegowinas schnellstmöglich alles nicht-serbische Leben zu eliminieren. Diese Verbrechen wurden vom Haager UN-Kriegsverbrecher-Tribunal (ICTY) dokumentiert, bewiesen und im Fall von Srebrenica auch als Völkermord eingestuft.
Obwohl das bosnische Strafgesetz Haftstrafen für Genozid-Leugnung vorsieht, hat Dodik genau diese Leugnung in sein Stammrepertoire integriert. Mitte April veranstaltete er im Beisein der Präsidentin des serbischen Parlaments, Ana Brnabic, eine Massenversammlung in seiner Hochburg Banja Luka, an der Tausende Serben teilnahmen und leugnete wiederholt den Srebrenica-Völkermord. Seine Rede beendete er mit dem Ruf: "Lang lebe Russland!"
Reise nach Russland
Kurz darauf reiste Dodik mit seinem Parteifreund Nenad Nesic, der auch Sicherheitsminister Bosnien und Herzegowinas ist, nach Russland. Dort trafen sich beide unter anderem mit dem Sekretär des russischen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew. Dodik und Nesic posteten ein Foto aus ihrem Flugzeug, auf dem sie feixend den "Drei-Finger-Gruß" zeigen, ein Symbol des serbischen Ethno-Nationalismus. Nesic sagte unlängst im serbischen Fernsehen: "Mein Land ist Serbien. Mein Land ist die Republika Srpska. Punkt!"
Bemerkenswert ist, dass trotz all dieser Verstöße gegen das Friedensabkommen von Dayton aus dem Jahr 1995 der Hüter eben dieses Vertrages, der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, Christian Schmidt, schweigt. Noch im September 2023 hatte Schmidt Dodik mit "ernsthaften Folgen" gedroht, sollte er weiter eskalieren. Doch obwohl Dodik seine Sezessionsbestrebungen vorantreibt, schweigt Schmidt. Der Belgrader Führung attestiert Schmidt hingegen regelmäßig, hilfreich für den Friedensprozess zu sein, was an Fantasterei grenzt.
Vorbereitung auf den schlimmsten Fall
Die EUFOR-Friedenstruppen, die von der EU eingesetzt wird, um die Umsetzung des Dayton-Abkommens zu gewährleisten, sollten die Rückkehrer-Gebiete intensiver patrouillieren, wofür eine Truppenaufstockung essentiell wäre. Die 150.000 potentiellen Opfer - der ehemalige und mittlerweile verstorbene britische Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, Lord Paddy Ashdown, nannte sie "die Ärmsten der Armen" - sind bereits einmal durch die Hölle gegangen. Deren Bedrohung und somit Retraumatisierung durch Dodik ist imminent. Der Westen sollte präventiv agieren, um im schlimmsten Fall diese Menschen zu retten, beispielsweise mittels militärisch abgesicherter Schutzzonen, möglichen Evakuierungsaktionen und Flugverbotszonen.
Dies mag irreal anmuten, doch die Überlebenden der serbischen Massaker vom Frühjahr 1992 leben in einem Klima der Angst. Und diese ist real, wenn alljährlich serbische Tschetnik-Verbände ihre Massaker in Visegrad ungestraft abfeiern, Putins nationalistische Motoradgang "Nachtwölfe" durch die RS fahren und der RS-Präsident den Völkermord leugnet.
Potential für eine Eskalation
Für den NATO-Oberkommandierenden für Europa (SACEUR), General Christopher Cavoli, ist die Lage ernst. Vor dem US-Kongress sagte er am 17. April: "Die Situation auf dem Westbalkan hat sich verschärft. Ethnische Spannungen in Bosnien haben das Potential zu eskalieren." Die RS versuche, so General Cavoli, "die staatliche Autorität" und das Verhältnis mit der EU und NATO "zu schwächen", und gleichzeitig enge Verbindungen mit Russland zu unterhalten. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte kürzlich, er sei "zutiefst besorgt" über die "fortwährende sezessionistische Politik" in Bosnien und Herzegowina.
Daraufhin nannte Ana Brnabic General Cavolis Aussagen "eine besorgniserregende Botschaft" und drohte: "Es würde einen Präzedenzfall schaffen, wenn sie die Srebrenica-Resolution in der UN-Generalversammlung durchdrücken. Sie werden die Büchse der Pandora öffnen. Möge Gott ihnen allen danach beistehen, mit dem, was dieses auslösen wird."
Es liegt nun am freien Westen, Maßnahmen zu ergreifen, um eines der erfolgreichsten Friedensprojekte seit dem Marshall-Plan zu retten. Die NATO hat im September 2023 in Kosovo eindrucksvoll bewiesen, wie ein aufflammender Konflikt binnen Tagen gelöscht werden kann. Der Westen sollte nun präventiv tätig werden, um Bosnien und Herzegowina zu retten.
Alexander Rhotert forscht seit 1991 zum ehemaligen Jugoslawien und arbeitete in verschiedenen Positionen u.a. für die UN, die NATO, die OSZE sowie den Hohen Repräsentanten (OHR) in Bosnien und Herzegowina.