Warum uns Game of Thrones & Co. faszinieren
15. April 2019Game of Thrones, Game of Thrones, GAME. OF. THRONES! Der Start der achten Staffel wird wohl an kaum jemanden vorbeigegangen sein – selbst wenn man die Game of Thrones-Serie nicht schaut. Mich eingeschlossen. Und genau diese Tatsache holt mich in der morgendlichen Redaktionskonferenz ein, als der Staffelstart und der Hype um die Serie diskutiert wird: Was fesselt die Zuschauer so sehr an der Mittelalter-Saga, was ist das Faszinierende an Fantasy oder Science Fiction überhaupt?
"Eigentlich lässt mich dieser Hype ja ziemlich kalt", denke ich noch. Vielleicht, weil ich ganz glücklich damit bin, die Büchse der Pandora noch nicht geöffnet zu haben. Denn der ganze Serienboom ging bislang noch an mir vorbei, obwohl ich sicherlich empfänglich dafür wäre. Doch dieser eine Schritt des Abos trennt mich noch davon. Toi toi toi! Als würde ich nicht schon genug Zeit am Bildschirm von Smartphone und PC verbringen...
Und just fällt die Wahl der Runde auf mich. Ich könnte mich doch mal dem Thema annehmen. "Klar, gerne!", höre ich mich noch sagen.
Lesen Sie hier: Smartphone-Sucht: Gönnt euch doch mal 'ne Pause!
Eintauchen in eine andere Welt
Während meiner Recherche zu diesem Beitrag wird mir erst klar, wie konsequent ich Game of Thrones (GoT) bislang ignoriert habe. Die fünf "A Song of Ice and Fire"-Romane von George R. R. Martin, auf denen die Serie basiert, sind zwischen 1996 und 2011 in der englischen Originalfassung erschienen. Die Verfilmung der Fantasyreihe läuft seit 2011 auf Home Box Office (HBO)! Bitte was?! Zwar mag das plausibel erscheinen, wenn es mittlerweile schon acht Staffeln gibt. Viel mehr als "Winter is Coming" ist aber – zumindest bei mir – bis dato nicht hängengeblieben. Umso mehr interessiert mich jedoch nun – und Sie hoffentlich auch – was das Geheimnis der Fantasy-Serien ist. Keine Sorge: keine Spoiler.
Und genau hier öffnet sich die Büchse der Pandora von ganz alleine – oder vielmehr stürze ich sogar kopfüber in sie hinein. Denn während ich versuche, mich von den unzähligen GoT-GIFs und Memes nicht ablenken zu lassen, öffne ich einen Tab nach dem anderen mit verschiedensten wissenschaftlichen Publikationen zu Game of Thrones oder der Faszination von Fernsehserien im Allgemeinen. Die perfekte Tapocalypse. Doch beschränken wir uns an dieser Stelle lieber auf ein paar wenige Erkenntnisse und die wichtigsten Takeaways.
Fun fact: Ich bin sogar über einen Kurs an der Uni Harvard gestolpert, mit dem Titel "The Real Game of Thrones – Culture, Society, and Religion in the Middle Ages", geleitet von der deutschen Wissenschaftlerin Racha Kirakosian. Das wäre vielleicht eine Maßnahme.
Andere Rezeptionskultur: Alles! Immer! Überall!
Doch die Euphorie ist nicht allein Game of Thrones vorbehalten, auch "Der Herr der Ringe", "Star Trek", "Supernatural", "Avatar" lösen eine ähnliche Begeisterungswelle aus, um nur ein paar Beispiele für andere erfolgreiche Fantasy- oder Science-Fiction-Formate zu nennen.
"Das Erzählen in Fernsehserien hat sich in den letzten Jahren verändert", sagt Timo Storck, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Psychologischen Hochschule Berlin, "nicht zuletzt durch die Rezeptionssituation, die meist nicht mehr auf DEN Fernseher oder DIE Ausstrahlungszeit fokussiert ist."
Wobei der Psychologe übrigens gar nicht mehr so streng zwischen den beiden Genres Fantasy- oder Science-Fiction unterscheiden würde. "Auch wenn Serien nominell vielleicht noch einem Genre zuzuordnen sind, haben sich die Fan-Gemeinden längst überschnitten", sagt Timo Storck. "The Walking Dead" etwa werde nicht nur von Leuten angesehen, die gerne Zombie-Filme schauen.
Erfolgsgeheimnis einer Serie
Joachim Friedmann von der Internationalen Filmschule (ifs) Köln sagte zum Serienboom, "Filme handeln von Dingen, Serien von Menschen". Das sei ein wesentlicher Unterschied. Damit eine Serie funktioniere, brauche es gute Charaktere und ein unlösbares Problem, das über viele Episoden einen Konflikt ermöglicht.
Aber auch ein Ziel des Protagonisten sei eine wichtige Komponente, ergänzt Tac Romey, der an der Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF) serielles Erzählen lehrt. "Es kann darin bestehen, dass der Held oder die Heldin mit einer bestimmten Person zusammen sein oder Präsident der Vereinigten Staaten werden möchte." Der Zuschauer müsse das Ziel nachvollziehen können und es sollte eine gewisse Empathie geweckt werden. Der Antagonist, der sich dem Helden in den Weg stellt, sei zum Beispiel ebenfalls ein klassisches Stilmittel des seriellen Erzählens.
Lesen Sie hier den ganzen Beitrag: Serienboom: Woher kommt das Phänomen?
Game of Thrones-Rezept
Doch gerade Game of Thrones ist für den Kulturtheorie-Professor Jan Söffner von der Zeppelin Uni in Friedrichshafen am Bodensee noch einmal ein Spezialfall. Bei der Serie sei der Knackpunkt eine "innere Spannung zwischen knallhartem Realismus und Fantasy", so Söffner. Es komme tatsächlich immer alles anders als man denkt...
Deshalb unterscheide sich das Erfolgsgeheimnis von Game of Thrones noch von "herkömmlicher Fantasy", die meist gängigen Schemata folge: einer besonders detailreichen Welt, einer Suche oder Mission und Gefährten. Jan Söffner sieht drei Besonderheiten bei der GoT-Geschichte.
Punkt eins: Herkömmliche Hollywood-Fantasy folge meist der Mythentheorie von Joseph Campbell, so Söffner. Heißt: Junger Held lebt in der Realität; er erhört den Ruf aus einer höheren, anderen Realität; er tritt dort ein; er hat einen Mentor, der meist stirbt; und er lebt am Ende in beiden Realitäten. Für "Star Wars" sei das prägend gewesen, für "Harry Potter" oder "Matrix" ebenfalls. Durch GoT könne man diesen Standard-Mythos eigentlich nicht mehr so richtig ernst nehmen. "Eventuell geht da eine Epoche zu Ende."
Punkt zwei: Die Fans erwarten laut Söffner gar nicht, dass sich alles zum Guten wendet. Im Gegensatz zur herkömmlichen Fantasy werde man ständig enttäuscht. Es gebe nur gebrochene Charaktere, die Figuren gingen allesamt kaputt. Eine Erlösung gebe es nicht. Science-Fiction-Autor Martin zerschlage alle üblichen Fantasy-Strukturen. "Und er tut das innerhalb einer Fantasy-Geschichte." Das Ergebnis: ständige Enttäuschung, aber auch ständige Hoffnung.
Punkt drei: Die Länge. "Wir leben in einer Zeit der Langerzählung", sagte Söffner. Zwar würden alle sagen, sie hätten keine Zeit – aber diese Erzählungen sind richtig lang. "Es geht nicht darum, sich kurz irgendwas erzählen zu lassen. Sondern darum, in eine Erzählung hereinzuwachsen – und durch sie eine Haltung zum Leben zu gewinnen."
Reine Realitätsflucht?
Die Universität Wien hat eine Untersuchung über die Gründe der Beliebtheit der GoT-Serie aus mediensoziologischer Perspektive angestellt. Dabei wurden insgesamt 817 Personen aus dem deutschsprachigen Bereich befragt, die mindestens fünf Folgen der Serie gesehen hatten. Das Ergebnis: Intrigen und unvorhersehbare Ereignisse sind neben dem Unterhaltungsaspekt ausschlaggebend, Game of Thrones anzusehen. Also genau der Überraschungsfaktor, den auch Kulturtheorie-Professor Jan Söffner angesprochen hat.
Doch ebenso faszinierten die Studienteilnehmer auch die Fantasy-Elemente und das mittelalterliche Setting. Außerdem wurde festgestellt, dass das Zusammenspiel verschiedener inhaltlicher Aspekte wie Handlung, Setting und Figuren, in Verbindung mit sozialen Aspekten, zur Popularität der TV-Serie Game of Thrones beitragen.
Nur mit Eskapismus oder Realitätsflucht lässt sich die Begeisterung für die Fantasiewelt allerdings nicht beschreiben. Denn oft haben die Fantasy-Spektakel auch etwas mit uns zu tun, schreibt zum Beispiel Gerald Poscheschnik, Psychologe an der Universität Innsbruck, in "Game of Thrones – Fernsehserien als Artikulation gesellschaftlich-unbewusster Phantasien". Fernsehserien können auch durchaus "gesellschaftspolitische Phantasien" in sich bergen. "Auf den ersten Blick bietet diese Fantasyorgie aus Sex, Blut, Gewalt, Drachen und Wiedergängern nur wenig Berührungspunkte und Parallelen zum Privaten und gesellschaftlichen Leben, eines/r durchschnittlichen, zeitgenössischen Zuschauers/-in", so Poscheschnik.
Zeitgenössische Themen in der Fantasywelt
Doch für den Psychologen Poscheschnik verkörpern die drei Gebiete in GoT (Westeros, Der Norden und Essos) und die Handlungsstränge, die sich auf diesen Schauplätzen abspielen, das Unbewusste, das auch unsere heutige Gesellschaft prägt. Etwa die Welt im Konflikt, eine zunehmende Unsicherheit und ein Auseinanderklaffen der Gesellschaften.
Vergleiche mit realen Bedrohungen wie dem Klimawandel liegen hier nahe, denn auch dessen Gefahr wurde lange ignoriert und ausgeklammert.
Aber auch die Hoffnung werde verkörpert – auf eine gute Wendung, auf eine Lösung der Konflikte und eine Abwehr der Gefahr. In Zeiten der Angst und der Krise taucht immer Hoffnung auf und dient auch dazu, um uns über Schlimmes hinwegzutragen und zu trösten – auch dies ist eine Form des Selbstbetrugs, ähnlich der Verdrängung.
"Neugier auf das Nichtfiktionale"
Auch der Berliner Psychologe Storck, der zusammen mit Svenja Taubner die Analyse "Von Game of Thrones bis The Walking Dead" herausgegeben hat, sieht den Eskapismus eher als Sonderfall in der Funktion von Serien.
"Ich kann auch Modelleisenbahnen sammeln oder einem Fußballverein anhängen. Das kann ebenfalls eine Dynamik von Eskapismus bekommen", so Storck. "Das Spannende an der Fernsehserie ist nicht die Realitätsflucht, sondern die Neugier auf das Nichtfiktionale."
Um etwas von GoT loszukommen, könne man hier auch "The Walking Dead" als Beispiel nehmen, wo es nach Storck nicht so sehr um Zombies geht. "Zumindest wäre das nicht zehn Staffeln lang interessant", ergänzt er. Vielmehr gehe es darum, wie menschliche Gruppen und Gesellschaften funktionieren, wenn es keine äußeren Regulationsmechanismen wie Polizei oder Gesetzgebungen gebe.
Doch ob wir uns trotz all der Gewalt (in GoT jedenfalls) auf Ratschläge aus der Welt der Fantasy verlassen können? "Zumindest Lösungsvorschläge erhoffen wir uns schon", sagt Timo Storck. "Ich glaube, dass viele Fernsehserien eben nicht nur darstellen und nicht nur erzählen, sondern auch so etwas entwickeln wie eine Verstehens- oder Verarbeitungsmöglichkeit, und eine Vision von Gesellschaft zumindest andeuten."
Fantasy als etwas "sehr Großes"
Kulturtheorie-Professor Söffner hält Game of Thrones indes für "etwas sehr Großes", das man wohl auch in 100 Jahren noch kenne (oder eben nicht). Ok. Autsch. Zwar habe die Serie noch nicht die Dimension und vor allem die Figuren von "Star Wars", womit George Lucas mehrere Generationen von Kindern beeinflusst habe. Doch sei es viel komplexer und größer aufgezogen als etwa Tolkiens "Der Herr der Ringe". Entscheidend sei, wie US-Autor George R.R. Martin die Story weiterführe und ob die TV-Serie ihr Niveau bis zum Schluss halten könne.
Ob ich Game of Thrones doch eine Chance gebe? Das bisher Verpasste aufzuholen, bedeutet laut Bingeclock zwei Tage, 17 Stunden und 32 Minuten reinen Serienmarathon.