Görlach Global: Deutschland neu positionieren
28. September 2021Im Bundestagswahlkampf kamen Außen- und Sicherheitspolitik so gut wie nicht vor. Beides muss aber wichtiger Bestandteil der Zukunftskoalition sein, die SPD, FDP und Grüne nun schmieden wollen - eine Vernachlässigung würde sich schmerzlich rächen. In den Sondierungen, den Koalitionsverhandlungen und, am Ende, im Koalitionsvertrag, müssen Fragen von geopolitischer Priorität deswegen bereits verhandelt und die Marschrichtung vorgegeben sein. Andernfalls wird man sich durch die Konflikte, die Autokraten und Diktatoren der demokratischen und freien Welt absehbar aufdrängen werden, nur hindurch improvisieren können in der Hoffnung, dass am Ende schon alles irgendwie gut gehen wird.
Dies am Anfang der Sondierungen betonen zu müssen, ist der Tatsache geschuldet, wie geopolitische Entscheidungen in der Ära Merkel hinausgezögert wurden. Dabei war die Diskrepanz zwischen grundlegender richtiger Überzeugung und praktischem Nichtstun, welche die noch amtierende Koalition an den Tag gelegt hat, besonders beachtlich: Das mörderische Vorgehen des Diktators im Kreml gegen seine politischen Gegner hat Angela Merkel zu recht und mit starken Worten angeprangert. Und doch hat sie zur selben Zeit energisch für die Gaspipeline Nord Stream 2 geworben, die Russlands Einfluss auf Zentraleuropa vergrößert.
Wer führt künftig das Auswärtige Amt?
Auch Außenminister Heiko Maas hat der SPD nicht zu größerer Glorie verholfen: Er traf sich zwar mit dem Hongkonger Bürgerrechtler Joshua Wong auf der Dachterrasse des Reichstages und zeigt damit Solidarität gegenüber dem grausamen und neuen hegemonialen Auftreten Chinas. Gleichzeitig hält sein Haus aber weiter an alten, längst überholten Überzeugungen bezüglich China fest, die schon längst durch nichts mehr in der Realität gedeckt sind. Denn China ist heute zu einem Aggressor geworden, der mit seiner Marine die Weltmeere dominieren will und so internationales Recht bricht.
Die Liberalen, die lange mit Stolz und Erfolg das Außenressort geführt haben, sehen - besonders in einer linken Koalition mit SPD und Grünen - die Notwendigkeit, das Finanzressort für sich zu reklamieren. Damit müssen sie das Außenressort notgedrungen einem der anderen Koalitionspartner überlassen. Als ausgesprochene Bürgerrechtspartei sollten die Liberalen aber zweimal hinschauen, ob sie dieses Ressort nicht doch federführend gestalten wollen. Denn sonst werden die Grünen, die mit Joschka Fischer vor zwei Jahrzehnten einen markanten Außenminister gestellt haben, aus Gründen der Koalitionsarithmetik das Auswärtige Amt übernehmen. Doch diese Erinnerung ist zu wenig, um das wichtige Ressort gut zu steuern. Hinzu kommt: So lange in China mehr und mehr Kohlekraftwerke ans Netz gehen, wird der Erfolg, der hierzulande in Sachen Klimawandel erreicht wird, von Peking wider zunichte gemacht.
Aggressor China
Der Blick nach China zeigt, wie schwierig das Gebiet der Außenpolitik werden wird: Die Volksrepublik beansprucht den gesamten Westpazifik für sich und liegt deshalb bereits in heftigen Grenzstreitigkeiten mit Japan, Südkorea, Taiwan und den Philippinen. Dort halten chinesische Milizen Teile der Spratly-Inseln illegal besetzt - das Model Putin in der Ostukraine lässt grüßen. Der Internationale Gerichtshof hat bereits entschieden, dass Peking keine Gebietsansprüche auf Territorium der Philippinen hat.
Das ficht den Aggressor Xi Jinping nicht an. Er lässt zudem künstliche Inseln in diesem Teil des Ozeans aufschütten und militärisch befestigen. Dem demokratischen Taiwan droht Xi mit Annexion und Unterwerfung unter die Einparteien-Diktatur Pekings. Die erfolgreiche Demokratie Taiwans ist ihm ein Dorn im Auge: Er fürchtet, dass die Begeisterung für die Freiheit von dort auf sein Land überschwappen könnte.
Die Senkaku-Inseln, die bis vor kurzen noch auf chinesischen Karten als japanisch eingezeichnet waren, sollen nun ebenfalls chinesisch werden. Das liegt an den Ölvorkommen, die dort vor kurzem entdeckt wurden. Mit Südkorea geht der Streit um den Socotra-Felsen. Pekings Logik ist klar: wenn die Felsen und Inseln zu uns gehören, dann ist das Wasser außen herum kein internationales mehr, sondern chinesisches. Dann müsste sich der Welthandel vor China niederwerfen und nach Pekings Pfeife tanzen.
Der drohende Griff nach Taiwan
Hegemonie als Recht des Stärkeren: das ist genau nach Xis Geschmack. Um sich dem zu erwehren, haben die USA, Großbritannien und Australien den größten Verteidigungspakt seit dem Ende des Kalten Krieges geschmiedet. Im Verbund mit Japan und Indien will man sich China in den Weg stellen. Was wird Deutschland tun, um die Freiheit auf den Weltmeeren zu verteidigen?
Als erstes, da sind sich die Experten in den USA einig, wird Xi Taiwan angreifen. Als Datum dafür wurde das Jahr 2027 errechnet, das Jahr, in dem China eine Militärreform abgeschlossen sein soll, die die Diktatur mit Hilfe Moskaus vornimmt. Taiwan ist ein bedeutender Handelspartner Deutschlands und Europa. Das Land ist eine beispielhafte Demokratie: Zehn Millionen der 23 Millionen Einwohner beteiligen sich an den jährlichen Demokratie-Hackathons, bei denen sie Eingaben an ihre Regierung machen können. Der Stand der Digitalisierung - unter Berücksichtigung von Persönlichkeitsrechten, wie sie in einer Demokratie gewährleistet sein müssen - ist einer der besten weltweit.
Die neue Bundesregierung muss eine Sonderbeauftragte für Taiwan ernennen, die, auch, wenn das gewünscht ist, zwischen Peking und Taipeh verhandeln kann. Deutschland kann sich nicht wegdrücken, wenn ein demokratischer Partner und Freund in seiner Existenz bedroht wird. Das muss sich in der deutschen Außenpolitik ausdrücken, bevor Präsident Xi das Land angreift. Denn dann ist die freie Welt in der Pflicht, im Rahmen ihrer Verantwortung Schutz zu gewähren ("responsibility to protect") und gemeinsam an der Seite der USA und Japans die Insel zu verteidigen. Eine solche militärische Eskalation zu verhindern, muss sich die neue Bundesregierung zur Aufgabe machen.
Aufbruchstimmung in Deutschland
Im Moment gibt es eine Aufbruchstimmung, die das Land seit mehr als einer Dekade nicht mehr gesehen hat. Die Denkfaulheit, die den Stillstand der Ära Merkel möglich gemacht hat, muss auch in der Außenpolitik ein Ende haben. Die Partner einer Ampel-Koalition haben die Chance, Deutschland neu in der Welt des 21. Jahrhunderts zu positionieren. Man kann ihnen nur wünschen, dass sie dies auch als ihre Aufgabe begreifen.
Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs, Research Associate am Internet Institut der Universität Oxford und Honorarprofessor für Ethik und Theologie an der Leuphana Universität. Der promovierte Linguist und Theologe arbeitet zu Narrativen der Identität, der Zukunft der Demokratie und den Grundlagen einer säkularen Gesellschaft. Nach Aufenthalten in Taiwan und Hongkong wurde diese Weltregion, besonders der Aufstieg Chinas und was er für die freie Welt bedeutet, zu seinem Kernthema. Er hatte verschiedene Positionen an der Harvard Universität und der Universität von Cambridge inne. Von 2009-2015 gab er als Chefredakteur das von ihm gegründete Magazin The European heraus.