Kinderrechte werden 30
19. November 2019Hlib Rzheutsky ist 13 Jahre alt, lebt in der ukrainischen Hauptstadt Kiew und geht in die achte Klasse. In der Schule gehören Kinderrechte zum Unterrichtsprogramm. Hlib hat sich viele Gedanken über Kinderrechte gemacht:
"Jedes Kind hat das Recht auf einen Namen und jeder sollte bei seinem Namen genannt werden. Außerdem weiß ich, dass jedes Kind das Recht auf Fürsorge durch seine Eltern hat, auch wenn es Pflegeeltern sind."
Die Rechte, die Hlib Rzheutsky aus dem Schulunterricht kennt, sind Teil der Kinderrechtskonvention, auf die sich die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen vor 30 Jahren geeinigt haben. Seitdem müssen die Länder, die die Konvention ratifiziert haben, alle fünf Jahre einen Bericht beim UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes vorlegen. Darin dokumentieren sie, wie die Konvention umgesetzt wird, zum Beispiel in der nationalen Gesetzgebung.
Gemischte Bilanz
Mit Ausnahme der USA haben alle Länder der Welt die Kinderrechtskonvention ratifiziert. Haben sich die Verhältnisse für Kinder damit in den vergangenen 30 Jahren verbessert?
"Wenn man weltweit schaut, mit ganz großem Abstand, dann würde man sagen ja, es gibt sehr viele positive Entwicklungen", sagt Rudi Tarneden, Pressesprecher des UN-Kinderhilfswerks Unicef in Deutschland.
"Es gibt globale Indikatoren wie zum Beispiel die Kindersterblichkeit: Die ist in den letzten 30 Jahren praktisch halbiert worden. Es gehen heute mehr Kinder zur Schule als jemals zuvor. Kinderarbeit nimmt ab, es werden auch weniger Kinder im globalen Maßstab ganz früh verheiratet. Und wir wissen auch aus eigener Erfahrung, dass Kinder heute häufiger ernst genommen werden als noch vor 30 Jahren."
Dennoch, so Tarneden, sei der 30. Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention kein Jubiläum, das man ungetrübt feiern könne:
"Wenn man näher heranzoomt, dann wird man ganz schnell feststellen, dass sich hinter diesen Durchschnittswerten ganz extreme Unterschiede verbergen. Es ist tatsächlich so, dass die Kinderrechte für Millionen Kinder bis heute eigentlich etwas sehr abstraktes sind und mit ihrem Leben noch wenig zu tun haben."
Digitales Update für die Kinderrechte?
Marc Dullaert, Gründer der Kinderrechtsstiftung KidsRights Foundation, teilt die gemischten Gefühle zum Jubiläum:
"Die Kinderrechtskonvention ist gut, wenn es darum geht, ein formelles Verfahren für die Durchsetzung der Kinderrechte zu haben."
Er vermisst in der jetzigen Konvention jedoch vor allem digitale Rechte für Kinder.
"Die Bedeutung von Internet und Social Media für Kinderrechte sind in der Konvention kaum berücksichtigt", sagt er im DW-Interview.
"Heute ist es für Kinder wichtig, dass sie das Recht auf ein sicheres und offenes Internet haben – und das Recht auf Zugang zum Internet überhaupt, damit sie Zugang zu Informationen haben."
Um diesen Missstand zu verbessern, rief seine Organisation im September 2019 einen „digitalen Staat" für Kinder und Jugendliche aus aller Welt ins Leben, den "State of Youth". Auf der Plattform können 13- bis 24-Jährige zusammenkommen und über Themen diskutieren und abstimmen. Die Ergebnisse werden dann an die politischen Entscheidungsträger übermittelt. Als nächstes steht eine Erklärung zur UN-Klimakonferenz im Dezember 2019 an. Auch andere Themen wie etwa die Gleichberechtigung von Frauen und Männern sollen im globalen Kinder- und Jugendforum online diskutiert werden.
"Deshalb haben wir diesen ersten digitalen, grenzenlosen Staat gegründet. Es ist ein nicht-politischer, nicht-religiöser Staat, wo junge Menschen aktiv teilnehmen können", erklärt Marc Dullaert. Der KidsRights-Gründer war der erste Kinderombudsmann der Niederlande und ist der ehemalige Präsident des Europäischen Netzwerkes von Ombudspersonen für Kinder (ENOC).
Index der Kinderrechte
Seit 2013 veröffentlicht die internationale Stiftung ihren jährlichen KidsRights-Index über die Einhaltung der Kinderrechte. Erstellt wird er gemeinsam mit der Erasmus School of Economics und dem International Institute of Social Studies der Erasmus-Universität Rotterdam. Grundlage dafür sind UN-Statistiken zur Kindersterblichkeit und Lebenserwartung, statistische Erfassungen von Bildung, Gesundheit und Schutz von Kindern und die gesellschaftliche Durchsetzung der Kinderrechtskonvention.
Nicht immer sind es die reichen Industrieländer, die am besten abschneiden. 2019 landete Neuseeland auf Platz 169 und das Vereinigte Königreich (UK) sogar auf Platz 170 der 181 Länder, die im Index erfasst werden. Beschämend für ein eigentlich reiches Land:
"Wenn wir die schlechte Bewertung des Vereinigten Königreichs nehmen, dann liegt sie vor allem an Etatkürzungen, die die Rechte von Kindern aus ärmeren Haushalten einschränken. Es liegt auch daran, dass die Gesetzgebung ziemlich - nennen wir es mal patriarchalisch - ist und kaum Raum für die Stimmen der Jugendlichen zulässt", sagt Marc Dullaert.
Grund zur Hoffnung geben Länder wie etwa Thailand und Tunesien auf Platz 14 und 15:
"Länder wie Tunesien zum Beispiel sind unter den ersten 20 und es ist ein armes Land. Tunesien hat jedoch die Kinderrechte in die nationale Gesetzgebung integriert, sie stellen Haushaltsmittel für die Kinderrechte zur Verfügung und die zukünftigen Generationen sind Teil des politischen Programms", so Dullaert.
"Der KidsRights-Index zeigt, dass auch arme Länder viel für Kinderrechte tun können. Es ist eine Frage des politischen Willens und des jeweiligen Fokus."
Reiche Länder, arme Kinder
Deutschland schneidet im Index sehr gut ab: auf Platz fünf hinter Island, Portugal, der Schweiz und Finnland. Das heißt jedoch nicht, dass es allen Kindern in Deutschland gut geht, betont Rudi Tarneden von Unicef Deutschland:
"Wenn Sie zum Beispiel in Großstädten hier in Deutschland, im Ruhrgebiet, schauen, wo in einer Großstadt wie Essen fast 30 Prozent aller Kinder in einem Haushalt aufwachsen, in dem die Eltern Sozialhilfe beziehen, dann kann man sich vorstellen, was das bedeutet", sagt Tarneden im DW-Interview.
"Kind sein ist da nicht eine Frage des Überlebens aber eben eine Frage, ob man am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann."
In einer wohlhabenden Gesellschaft, so Tarneden, sollten Kinderrechte wie das Recht auf Bildung, auf Teilhabe und auch das Recht gehört zu werden, selbstverständlich sein. Vor 30 Jahren, als die UN-Kinderrechtskonvention verabschiedet wurde, habe man in den wohlhabenden Ländern gedacht, dass Kinderrechte vor allem ein Problem der ärmeren Länder seien, doch:
"Wir wissen, dass es auch in den wohlhabenden Staaten viele Kinder gibt, die benachteiligt sind, die keine faire Chance haben, ihre Fähigkeiten zu entwickeln."
Umso schlimmer sei die Situation vieler Kinder, die unter extremer Armut leiden, sagt Tarneden. Bereits heute lebe die Hälfte aller Kinder weltweit in Großstädten, häufig am Rande der Gesellschaft und in sehr prekären Verhältnissen. "In Armenvierteln, in Slums, wo eben die Lebensbedingungen sehr schlecht sind und wo die Kinderrechte kaum eine Rolle spielen", so Tarneden.
Er sehe viele negative Trends in der heutigen Zeit, nicht zuletzt hätten sich die Verletzungen von Kinderrechten in Kriegs- und Konfliktgebieten in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Neue Probleme wie der Klimawandel seien dazugekommen, und bestehende Probleme wie Armut und Unterentwicklung gebe es weiterhin. Insgesamt würden Kinder immer wieder Opfer von Kinderrechtsverletzungen.
"Deswegen heißt es eben auch, dass die Kinderrechte für jede Generation eigentlich neu errungen werden müssen", betont der Unicef-Sprecher.
Weltweite Kinderparlamente
Das Bewusstsein dafür, dass Kinder besondere Rechte und einen besonderen Schutz brauchen, sei insgesamt gewachsen, betont Rudi Tarneden. Auch das Recht gehört zu werden, setze sich langsam durch:
"Das fängt in der Familie an, geht aber ins öffentliche Leben über. Wenn Sie beispielsweise in Städten und Gemeinden oder in Schulen Kinderparlamente beobachten, dann ist es ganz erstaunlich und unheimlich frisch, was von den jungen Leuten kommt. Das ist eine große Bereicherung für die ganze öffentliche Diskussion."
Kinderparlamente gibt es inzwischen weltweit und auf allen Kontinenten, auf dem Land ebenso wie in Städten. In Indien gibt es mittlerweile mehr als 50.000 Kinderparlamente, das zeigt der Dokumentarfilm "Power to the Children" der deutschen Dokumentarfilmerin Anna Kersting. Ob in Afrika, Asien, Lateinamerika oder Europa - immer mehr Kinder und Jugendliche wollen ihrer Stimme Gehör verschaffen. Es könnte laut werden: Etwa ein Drittel der Weltbevölkerung ist heute unter 18 Jahre alt. Auch die 13-jährige Hlib aus Kiew kennt ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht, gehört zu werden:
"Das Recht, das ich am meisten mag, ist das Recht meine eigene Meinung zu äußern. Dieses Recht nehme in ständig in Anspruch."