"Charlie Hebdo" und der Niedergang der Karikatur
6. Januar 2020Der 7. Januar 2015 ist für die Mitarbeiter der Pariser Satirezeitung "Charlie Hebdo" zunächst ein Tag wie jeder andere. Sie sitzen bei der Redaktionskonferenz zusammen und diskutieren über mögliche Themen. Auf dem Tisch steht Kuchen, einer der Zeichner hat Geburtstag. Doch gegen 11.30 Uhr stürmen plötzlich zwei Männer herein und eröffnen das Feuer. Elf Menschen sterben im Kugelhagel der Kalaschnikows. Anschließend laufen die Täter auf die Straße und rufen: "Allah ist groß. Wir haben Charlie Hebdo getötet. Wir haben den Propheten Mohammed gerächt."
Der Anschlag der Brüder Chérif und Saïd Kouachi, die bis dahin als Kleinkriminelle in den Pariser Vororten in Erscheinung getreten waren, galt jener Zeitung, die es gewagt hatte, Mohammed-Karikaturen zu veröffentlichen.
"Je suis Charlie"
Eine Welle der Solidarität geht nach der Bluttat um die Welt. Der Slogan "Je suis Charlie", auf Deutsch "Ich bin Charlie", ist in aller Munde. Wenige Tage nach dem Massaker gehen in Frankreich landesweit mehr als vier Millionen Menschen auf die Straße, um ein Zeichen für Meinungsfreiheit und gegen den Terrorismus zu setzen. In Paris führt der damalige Präsident François Hollande einen Trauerzug mit Staats- und Regierungschefs aus aller Welt an.
"Soldaten auf dem Schlachtfeld"
Auch in Zeichnerkreisen ist man entsetzt. Kollegiale Betroffenheit und Trauer, aber auch Wut machten sich breit, erinnert sich der Berliner Karikaturist Bernd Pohlenz. Als Schöpfer des Portals "toonpool", einer Sammlung von rund 300.000 Cartoons von 2500 Künstlern aus 120 Ländern, hält er engen Kontakt zu Zeichnern aus aller Welt. "Mit dem Pariser Attentat war unter den Zeichnern ein paralysierender Schock eingetreten in dem Gefühl, ungefragt zum Personal eines Krieges zwischen zwei unvereinbar gegensätzlichen Welten zu gehören", sagte er der DW. "Ihr Medium hatte für nicht wenige Zeichner plötzlich die Bedeutung einer Waffe bekommen, die Künstler sahen sich als Soldaten auf dem Schlachtfeld." Und dennoch seien fast alle Karikaturisten nach einigen Wochen wieder zur Tagesordnung übergegangen. Ganz ohne "Schere im Kopf".
Fatwa gegen Salman Rushdie
Ähnlich sieht das auch der Franzose Guillaume Doizy, der sich intensiv mit der Geschichte der Pressezeichnung beschäftigt hat. "Man wollte ein Gegengewicht zum Angriff auf die Meinungsfreiheit schaffen", sagt er. Dieser Angriff habe im Übrigen ja schon vorher begonnen. Zunächst, als erster weltweiter Konflikt, gegen Salman Rushdies 1988 erschienenen Roman "Die satanischen Verse". Er löste eine Reihe von Protesten und Gewalttaten von Muslimen aus. Der iranische Religionsführer Ayatollah Khomeini verhängte eine Fatwa gegen Rushdie und forderte darin den Tod des Schriftstellers - mit der Begründung, das Buch sei "gegen den Islam, den Propheten und den Koran" gerichtet.
Mohammed-Karikaturen aus Dänemark provozieren Eklat
Auf Karikaturenebene kam es erstmals 2005 zum internationalen Eklat, als die dänische Zeitung "Jyllands-Posten" zwölf Mohammed-Karikaturen veröffentlichte, die später auch in Norwegen erschienen. Zwei der Zeichner mussten nach Morddrohungen untertauchen. Der dänische Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen stellt sich auf die Seite der Zeitung und wies die Bitte um ein Gespräch von Botschaftern aus elf islamischen Ländern ab. Aufgebrachte Muslime drohten, die dänischen und norwegischen Botschaften ihrer Länder zu stürmen. 2008 deckten die dänischen Sicherheitsbehörden Mordpläne gegen Kurt Westergaard auf, einen der Mohammed-Karikaturisten. Zwei Jahre später entging er nur knapp dem Anschlag eines mutmaßlichen Islamisten.
Guillaume Doizy legt der DW gegenüber allerdings Wert darauf klarzustellen, dass die meisten Muslime über religiöse Karikaturen auch schmunzeln können - und wenn sie sich aufregen, dann ebenso wie ein Christ oder ein Buddhist, wenn ihre Religion satirisch dargestellt wird. "Aber es gibt immer eine kleine Gruppe, die einen solchen Anlass nutzt, um ihre religiöse Weltanschauung durchzusetzen und die Leute zu manipulieren", so Doizy. Dann gebe es nur eins: Flagge zeigen und weitermachen.
Auch die überlebenden Redakteure von "Charlie Hebdo" meldeten sich eine Woche nach dem Anschlag mit einer neuen Ausgabe des Magazins zurück: Das Titelbild zeigte einen verwaisten Mohammed mit einem "Je suis Charlie"-Schild und der Überschrift "Alles ist vergeben".
50. Geburtstag unter Polizeischutz
Die Auflage der Satirezeitung, die vor dem 7. Januar eher ein Nischenprodukt war, stieg vorübergehend auf mehrere Millionen Exemplare. Zeitweise gab es sogar eine deutsche Ausgabe. Mittlerweile sind die Verkaufszahlen wieder gesunken, die deutsche Ausgabe wurde eingestellt. Humor sei vielen Menschen suspekt, das gelte nicht nur für Islamisten, sagte Riss alias Laurent Sourisseau, Überlebender des Attentats und aktueller Chefredakteurs des Blatts, das 2020 seinen 50. Geburtstag feiert - an einem geheimen Ort und unter Polizeischutz. Satire sei nach wie vor ein Kampf.
Schon seit dem Aufruhr um die dänischen Karikaturen, aber spätestens seit dem Attentat auf Charlie Hebdo sind satirische Zeichnungen mehr als je zuvor in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, so Guillaume Doizy gegenüber der DW. Bei jeder allzu kritischen Zeichnung sei ein medialer Aufschrei vorprogrammiert.
Karikaturen in der Presse- ein Auslaufmodell?
"Die Pressezeichnung steht unter einen schlechten Stern und 2019 war ein besonders schwarzes Jahr", sagt Claire Carrard, Präsidentin der Vereinigung "Cartooning for peace". Sie nimmt Bezug darauf, dass die renommierte Tageszeitung "New York Times" seit Mitte 2019 in ihrer internationalen Ausgabe keine Karikaturen mehr abdruckt - nachdem eine Zeichnung als antisemitisch empfunden wurde. Sie zeigt den amerikanischen Präsidenten Donald Trump mit Kippa, der den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu als Dackel an der Leine führt.
Für Guillaume Doizy ist nicht nur die inhaltliche Debatte ein Grund, dass die New York Times die Pressezeichnungen eingestellt hat. Für ihn ist die Karikatur in der Zeitung eine aussterbende Gattung. "Die Pressezeichung war das Mittel des 19. und 20. Jahrhunderts", sagt er, "heute wollen die Leute Fotos und Videos sehen."
Angesichts sinkender Auflagen wollen die Verlage auch ihre Leser und Anzeigekunden nicht verärgern - denn Shitstorms im Netz sind heutzutage an der Tagesordnung. "Die Zahl der verbalen Angriffe, also Beschimpfungen, Bedrohungen und Einschüchterungen ist sehr, sehr viel höher geworden", bestätigt Juliane Matthey, Pressereferentin von "Reporter ohne Grenzen".
Neue Wege
Haben Karikaturen also noch eine Zukunft? Ja, sagt Bernd Pohlenz. Die Zeichner nutzten ihren Vorteil, Kunst zu brandaktuellen Themen anbieten zu können, und fänden sich zunehmend in Symbiosen mit Kunstzentren, Galerien und Museen zusammen: "Die Karikaturisten sind da sehr kreativ."