Fünf Fragen zu Erdogans Flüchtlingspolitik
3. März 2020Welches Ziel verfolgt Erdogan?
Selten stand der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan vor einer größeren Herausforderung. Sein außenpolitisches Engagement in der nordsyrischen Region Idlib führte zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Assad-Regime und dessen Verbündeten Moskau. Zahlreiche türkische Soldaten sind in den Gefechten bereits gefallen. Die Folgen für die Zivilbevölkerung sind katastrophal. Vier Millionen Syrer könnten in den kommenden Wochen auf einen Grenzübergang bei der türkische-syrischen Grenze drängen.
Mit seiner Aussage "Die Tore wurden geöffnet" ebnete Erdogan den Weg für einen neuen Migranten-Strom in Richtung Europa. Hinter diesem Schritt steckt Kalkül: Die Aufmerksamkeit der türkischen Öffentlichkeit wird von der syrischen Grenze weg - und auf die europäische Grenze hingelenkt.
Zudem erhofft sich Erdogan, dass durch den erhöhten Druck der Westen eher seinen Forderungen nachkommt: Die NATO-Verbündeten sollen sich daran beteiligen, die türkische Luftverteidigung in Nordsyrien zu stärken. Zudem erhofft sich Erdogan, dass die Europäische Union die russische Regierung zu einem Waffenstillstand bewegt. Ein weiteres Ziel Erdogans ist es, die Zustimmung für die Errichtung einer Sicherheitszone in Nordsyrien zu erhalten.
Der türkische Präsident verweist zudem darauf, dass das EU-Türkei-Abkommen nur sechs Milliarden Euro Hilfsgelder vorsieht. Nach Aussagen der türkischen Regierung seien bereits mindestens 40 Milliarden Dollar für die Flüchtlingspolitik ausgegeben worden. Erdogan erwähnte zuletzt, dass die EU zusätzlich eine Milliarde Hilfsgelder in Aussicht gestellt hätte. Die Erwartungen seien jedoch viel höher. "Wir wollen dieses Geld nicht mehr", äußerte sich der Präsident daher trotzig.
Ist die Forderung nach mehr Hilfsgeldern berechtigt?
Die EU-Länder wollen eine Wiederholung einer Flüchtlingskrise, wie man es im Jahr 2015 erlebt hat, unbedingt verhindern. Daher wurde das EU-Türkei-Abkommen im Jahr 2016 abgeschlossen. Es sieht vor, dass Einwanderer, die illegal nach Griechenland gelangt sind, in die Türkei zurückgeführt werden. Im Gegenzug sollte die Türkei finanziell entlastet werden.
Das Abkommen war deutlich wirksamer für die EU als für Ankara: Nur noch 25.000 Flüchtlinge kamen in die 18 EU-Mitgliedsstaaten, während die Türkei 3,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. An diesem Ungleichgewicht stört sich die türkische Regierung.
Doch Ankara argumentiert, dass die EU sich nicht an ihre Abmachung gehalten habe, sechs Milliarden Euro zwischen den Jahren 2016 und 2019 an die Türkei zu überweisen. Selbst nach Angaben der Europäischen Kommission wurden bis Februar 2020 nur 4,7 Milliarden Euro für Projekte genehmigt und von dieser Summe erst 3,2 Milliarden an die Türkei überwiesen.
Können die Erwartungen der Türkei erfüllt werden?
Die türkische Regierung wünscht sich, dass die EU mehr für einen Waffenstillstand einsetzt und für dieses Ziel mehr Druck auf die russische Regierung ausübt. Doch die Bemühungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, auf den Kreml-Chef einzuwirken, waren bisher nicht erfolgreich. Zwar wurden Sanktionen gegen Russland auf EU-Ebene diskutiert, doch ist fraglich, ob Strafzölle den Kreml zum Einlenken bringen. Bereits in der Ukraine-Krise haben EU-Sanktionen Russland nicht dazu gebracht, ihre expansive Politik auf der Krim und in der Ostukraine einzustellen.
Die Auszahlungen der Hilfsgelder verzögerten sich jedoch, weil es viel Misstrauen gegenüber Ankara gibt - herbeigeführt durch den zunehmenden Rückgang von Demokratie, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. Auch wurde von Seiten der EU Kritik daran geäußert, dass die Hilfsgelder für syrische Flüchtlinge direkt an die Erdogan-Regierung gezahlt werden und nicht an internationale Hilfsorganisationen, wie es häufig gefordert wird.
Was wird die Europäische Union nun tun?
Brüssel versucht diplomatische Lösungen zu finden, um die Krise an der griechischen EU-Außengrenze zu bewältigen. Einerseits versucht die EU durch die Stärkung der Außengrenzen, Solidarität mit Griechenland zu zeigen und somit Erdogan dazu zu veranlassen, den Flüchtlings-Deal aufrechtzuerhalten. Außerdem wünschen sich die europäischen Staaten, dass Ankara die Situation an der griechisch-türkischen Grenze wieder unter Kontrolle bringt, um den heftigen Tumulte an den Grenzübergängen ein Ende zu setzen.
Um dieser Zielsetzung näher zu kommen, reiste der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell zusammen mit dem EU-Kommissar für Krisenmanagement Janez Lenarcic die Türkei. Am 6. März werden sich zudem EU-Länder im Rahmen einer außerordentlichen Sitzung des EU-Rates für Auswärtige Angelegenheiten in Zagreb zusammenfinden, um gemeinsame Schritte einzuleiten. Eine Neuauflage des Flüchtlingsdeals wird durch neue Forderungen aus Ankara erschwert. Mehr Hilfsgelder und eine Zustimmung, dass die Gelder auch in die Region Idlib fließen dürfen, stehen im Raum.
Was wird Deutschland tun?
Für Kanzlerin Merkel hat es höchste Priorität, dass eine neue Flüchtlingskrise wie im Jahr 2015 verhindert wird. Die Ereignisse an der griechisch-türkischen Grenze haben das Abkommen zum Einsturz gebracht, doch sie drängt wie kaum ein anderer Regierungschef auf die Fortführung des EU-Türkei-Abkommens.
Wie wichtig dieser Deal für Merkel ist, zeigt sich auch daran, wie häufig sie die Bemühungen der Türkei im Umgang mit syrischen Flüchtlingen gelobt hat. Auch sicherte sie zusätzliche Finanzhilfen zur Bewältigung der Krise in Idlib zu. Der Flüchtlingsdeal zwischen Europa und der Türkei wird von der deutschen Regierung als klarer Erfolg bewertet und deshalb auch verteidigt. Von allen europäischen Regierungen versucht Berlin am entschlossensten, Erdogan von einer weiteren Zusammenarbeit in der Flüchtlingspolitik zu überzeugen.