Marokko und Algerien - "ewiglich Brüder"
14. Dezember 2022"One, two, three! Viva l'Algérie!" diesen Schlachtruf hörte man in den Tagen vor dem Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft oft im Souq Waqif, der Fanzone in Katars Hauptstadt Doha. Dazwischen wurden oft die algerische Nationalhymne und traditionelle Volkslieder gesungen. Allerdings hatte sich Algerien für dieser Weltmeisterschaft gar nicht qualifiziert.
Das Team war zuletzt 2014 dabei und scheiterte im Achtelfinale erst in der Verlängerung gegen den späteren Sieger Deutschland . Aber das hat Hunderte von Algeriern nicht davon abgehalten, in Doha zu erscheinen, um ihre nordafrikanischen Nachbarn aus Marokko vor ihrem historischen Halbfinale gegen Frankreich zu unterstützen. Und die Marokkaner wissen die Unterstützung zu schätzen.
Brüderlichkeit trotz diplomatischer Spannungen
"Wir sind alle vereint", sagt Yasmine, eine Anhängerin der "Löwen vom Atlas", die sich freut, "dass alle Algerier uns bei diesem Turnier so unterstützen, wie wir sie 2014 unterstützt haben." Ahmed aus Casablanca stimmt dem zu: "Wir haben viele algerische Fans getroffen, mit denen wir die Flaggen getauscht haben. Jeder hier fühlt sich afrikanisch, jeder fühlt sich arabisch, jeder fühlt sich großartig."
Der Zusammenhalt erscheint überraschend angesichts der aktuell angespannten politischen Situation zwischen Algerien und Marokko, die ihre diplomatischen Beziehungen im August 2021 abgebrochen haben. Algerien ist unzufrieden mit der jüngsten Annäherung Marokkos an Israel und wirft dem Land außerdem vor, das "MAK", die Bewegung für die Autonomie der Kabylei (französisch: Mouvement pour l'autodétermination de la Kabylie) zu unterstützen. Die Kabylei ist eine Region in Algerien, in der in der Mehrheit das Berbervolk der Kabylen lebt. Das "MAK" fordert die Selbstbestimmung der Küstenprovinz und die Unabhängigkeit von Algerien.
Andererseits werfen die Marokkaner den Algeriern vor, die Kampagne der Polisario-Front für die Unabhängigkeit der Westsahara zu unterstützen und beschuldigen den algerischen Fußballverband wegen eines Trainingstrikots im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft der "kulturellen Aneignung".
Zensur im algerischen Staatsfernsehen
So zahlreich und komplex die Gründe für den Streit sind, so bizarr sind oft die Folgen, vor allem für die lokalen Medien in der Region. Während die ganze Welt von Marokkos Erfolgsserie bei der Weltmeisterschaft gefesselt ist, hat das algerische Staatsfernsehen das Ereignis weitgehend ignoriert. Als die "Löwen vom Atlas" in der Gruppenphase Belgien mit 2:0 besiegten, ließ ein Nachrichtensender das Spiel einfach in der Ergebnisliste für diesen Tag aus. Nachdem sie im Achtelfinale auch Spanien besiegt hatten, teilte man den Zuschauern mit, Spanien habe ein schwieriges Spiel gehabt und sei im Elfmeterschießen ausgeschieden - ohne jedoch zu erwähnen, gegen wen.
Nachdem der wichtigste Sender Algeriens, Canal Algerie, Marokko nach dem Viertelfinalsieg gegen Portugal dann doch erwähnt und auch die Flagge des Nachbarlandes gezeigt hatte, wurde Chabane Lounakel, Generaldirektor der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt EPTV (zu der auch Canal Algerie gehört), entlassen. Der offizielle Grund wurde zwar nicht bekannt gegeben, liegt aber auf der Hand.
Während die Beziehungen zwischen den Regierungen angespannt sind, wachsen die Sympathien zwischen den Menschen beider Länder. "Um ehrlich zu sein, tut es weh, dass das algerische Staatsfernsehen die Ergebnisse unserer marokkanischen Brüder nicht zeigt", klagt Ahmed, ein in Katar lebender Algerier. "Aber wir, das algerische Volk, sind auf ihrer Seite. Auch wenn die Staaten ihre Probleme haben, werden wir, das Volk, immer Brüder sein."
Im Internet kursieren Videos, auf denen zu sehen ist, wie Algerier in Cafés im ganzen Land die Erfolge der Marokkaner bei der WM verfolgten und feierten. Auch der algerische Superstar und Nationalspieler Riyad Mahrez, der sein Land nach der verpassten Qualifikation nicht in Katar vertreten konnte, gratulierte den Rivalen. "Ich freue mich für sie", sagte der Offensivmann von Manchester City der Zeitung "The National" aus den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Gegen die ehemalige Kolonialmacht
"Letztendlich sieht man einen echten Unterschied zwischen den Regierungen und ihren Bürgern", sagt der Algerier Ahmed, der Marokko nach eigenen Worten "bis zum Ende" unterstützte. "Auch wenn es politische Probleme gibt, haben wir Fans sie beiseitegeschoben."
Taha aus Marrakesch hingegen vertritt eine klare Meinung zur diplomatischen Krise und betont, dass die Westsahara "marokkanisch ist und bleiben wird". Doch er sagt auch, Marokkaner und Algerier seien "brüderliche Menschen", und "nichts auf der Welt kann das ändern." Die Brüderlichkeit dürfte auch darin begründet sein, dass Marokkos WM-Halbfinalgegner Frankreich war: Titelverteidiger und ehemalige Kolonialmacht in Nordafrika - in Algerien und Marokko.
Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert.