Fußball und Sportwetten: Fatale Beziehung
22. Januar 2022Bratwurst, Bier und tolle Stimmung: Die deutsche Fußball-Bundesliga ist weltweit bekannt für volle Stadien und eine einzigartige Atmosphäre. Doch seit geraumer Zeit ist etwas hinzugekommen, dem man sich kaum mehr entziehen kann: Sportwetten. Der Werbung dafür begegnet man immer und überall - im Fernsehen, in den Stadien und auf Fanartikeln. Für viele Fans ist das nicht mehr als ein Hintergrundrauschen, für andere jedoch ist es verheerend.
"Es scheint zur neuen Normalität zu gehören, ist es aber ganz und gar nicht", sagt Thomas Melchior gegenüber der DW. "Wenn du ein Problem mit Wetten hast, dann ist nichts mehr normal. Ich habe 800.000 Euro an Anbieter von Sportwetten verloren und jetzt sitze ich im Gefängnis - auf Kosten der Steuerzahler. Es ist ein super Geschäft für die Wettanbieter: Sie streichen die Gewinne ein und müssen sich um die entstandenen Schäden nicht kümmern."
Melchior befindet sich im offenen Vollzug einer Dresdner Justizvollzugsanstalt. Dort verbüßt er die letzten vier Monate einer Haftstrafe, zu der er im Januar 2019 verurteilt worden war. Der 43-Jährige wurde wegen Betruges verurteilt, nachdem er auf die schiefe Bahn geraten war, um seine immer größeren Wettschulden zu begleichen.
Angefangen hatte alles mit einer Zehn-Euro-Wette auf einen Sieg von Bayern München, die ihm einen Euro Gewinn einbrachte. Damals war Melchior noch in einer Bank angestellt. In der Halbzeitpause des Champions-League-Spiels Rapid Wien gegen Bayern München sah er den Werbespot eines Wettanbieters. Für den Wetteinsatz auf einen Bayern-Sieg gab es zehn Prozent Gewinn. Leicht verdientes Geld, dachte sich Melchior. Später folgten größere Gewinne - und noch größere Verluste.
"Ich habe alles verloren”, sagt Melchior, der eine Hilfsagentur für andere Menschen gegründet hat, die sich in einer ähnlichen Lage befinden. Zudem hat er ein Buch mit dem Titel "Mein Leben ist kein Spiel" geschrieben, in dem er über seine Erfahrungen berichtet. "Den Kontakt zu meinen Eltern, zu meinen Freunden, meinen Job. Ich habe alles verloren, was es zu verlieren gab. Ich dachte sogar an Selbstmord. Doch ich habe mich nicht umgebracht und heute bin ich froh darüber."
Ruf nach Veränderung
Geschichten wie diese haben die Beziehungen zwischen Fußball und Sportwetten zu einem der meistdiskutierten Themen im modernen Weltfußball gemacht. Erst Anfang dieser Woche forderte "Unsere Kurve", die Interessengemeinschaft organisierter Fußballfans in Deutschland, tiefgreifende Reformen. Demnach sollen Verbände und Vereine ab Juli auf den Abschluss neuer Sponsoringverträge mit Sportwetten-Anbietern verzichten und die Hälfte der Einnahmen aus bereits bestehenden Sponsoringverträgen für die Suchtprävention spenden. Außerdem fordert der Dachverband der organisierten Fußballfans ein Werbeverbot für Sportwetten.
"Verbände und Vereine liefern ihre Fans einfach der Wettindustrie aus und machen sich keinerlei Gedanken über die Konsequenzen", erklärte "Unsere Kurve”-Sprecher Markus Sotirianos gegenüber der DW. "Die massive Präsenz der Wettanbieter in den Medien macht es den Fans unmöglich, ein Fußballspiel zu sehen, ohne immer wieder mit ihren Werbespots konfrontiert zu werden. Das verändert die gesamte Wahrnehmung des Fußballs und damit auch seine Kultur. Denn es geht nicht mehr nur um das Spiel auf dem Platz, sondern darum, ob man auf das Richtige gewettet hat. Diese Zweckentfremdung des Fußballs zum Zweck der finanziellen Ausbeutung seiner Fans ist deshalb ein Problem, das alle angeht, und es muss ein Ende haben!"
Nur wenige Tage zuvor hatte der Bundesligaclub RB Leipzig eine Wettpartnerschaft mit dem britischen Unternehmen 888 bekannt gegeben. Stolz berichtete RB Leipzig nicht nur, dem Wettanbieter "TV-relevante Werbepräsenz" zur Verfügung zu stellen. 888 passe auch zur Philosophie und Ausrichtung des Clubs, denn das Motto des Wettanbieters "Safer. Better. Together" demonstriere "sein Engagement für sichere und verantwortungsvolle Sportwetten". Derartige Marketingsprüche sollen Vertrauen bilden. Das macht sie jedoch nicht weniger umstritten.
Profitierende Partner
RB Leipzig ist zwar der bislang letzte deutsche Proficlub, der ein solches Abkommen bekannt gegeben hat, er ist aber bei weitem nicht der Einzige. Die meisten Bundesligaclubs, aber auch zahlreiche unterklassig spielende Vereine, gehen solche Partnerschaften ein. Bwin, das Unternehmen, bei dem Melchior seine erste Wette platzierte, ist Partner des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), der für die Nationalmannschaft, die Frauen-Bundesliga, den DFB-Pokal und die unteren Ligen zuständig ist. Außerdem sponsert Bwin auch eine ganze Reihe deutscher Vereine, darunter Borussia Dortmund, Union Berlin, den 1. FC Köln, den FC St. Pauli und Dynamo Dresden.
Die finanzielle Notlage, in die viele Vereine durch die Coronavirus-Pandemie geraten sind, scheint solch lukrative Geschäfte unwiderstehlich zu machen, selbst für Vereine, die im Allgemeinen für sich in Anspruch nehmen, ein soziales Gewissen zu haben. Bislang ist Glücksspielreklame noch nicht so streng verboten wie etwa Tabakwerbung. Dennoch ist eine breite Mehrheit der Meinung, dass die verheerenden Abhängigkeiten, auf denen ein erheblicher Teil der Gewinne dieser Unternehmen basieren, strengere Gesetzesvorschriften erforderlich machen.
Derartige Schritte wurden in Spanien bereits unternommen. Dort dürfen Wettanbieter nicht mehr auf der Vorderseite spanischer Fußballtrikots oder in den Stadien werben. Generell dürfen Glücksspielunternehmen nur in einem Vier-Stunden-Fenster zwischen ein und fünf Uhr morgens TV-Spots schalten.
In Italien gilt eine ähnliche Regelung, auch wenn die finanziellen Auswirkungen der Corona-Pandemie zu ersten Forderungen nach einer Aufweichung geführt haben.
England diskutiert derweil ein Verbot von Trikotwerbung durch Wettanbieter - dies würde fast die Hälfte aller Premier-League-Clubs betreffen. Bei den Vereinen stoßen solche Gesetzesvorhaben in der Regel auf wenig Gegenliebe, sind sie doch oft dringend auf die Einnahmen durch das Wettanbietersponsoring angewiesen.
DFB und DFL verteidigen Wettsponsoring
In Deutschland gibt es bislang keine Restriktionen. Der DFB erklärte gegenüber der DW, er habe "stets eine regulierte Öffnung des Marktes unterstützt, um illegale Sportwetten zu bekämpfen und durch legale Angebote zu ersetzen". In seinem Statement fügt der Deutsche Fußballbund hinzu, dass es aktiven Spielern verboten sei, direkt für Wettanbieter zu werben; dass der DFB eine Reihe von Programmen unterstütze, die Kinder vor Wettsucht schützen sollen; dass der Verband selbst alle gesetzlichen Regelungen befolge und die Partnerschaft mit Bwin eine "umfassende Verpflichtung zur Suchtprävention und Integrität, einschließlich der Verhinderung von Spielmanipulationen" beinhalte.
Die Deutsche Fußball-Liga (DFL) antwortete bislang nicht auf eine Anfrage der DW, hatte aber bereits im Dezember 2020 einen ähnlichen Ton angeschlagen, als sie einen neuen Vertrag mit dem Glücksspielunternehmen Tipico verkündete.
"Die DFL sieht in der Möglichkeit, legale Sportwetten zu fördern, ein zentrales Instrument, um die Wettlust in geordnete und kontrollierte Bahnen zu lenken. Dies spielt eine wesentliche Rolle für eine funktionierende Regulierung von Sportwetten, da es die Etablierung von Grau- und Schwarzmärkten verhindert", heißt es in einer Erklärung. Der Vertrag läuft bis zum Ende der Saison 2024/25.
Die DFL und der DFB haben auch ein gemeinsames Projekt mit dem Titel "Gemeinsam gegen Spielmanipulation - spiel kein falsches Spiel!" ins Leben gerufen, das sich ebenfalls mit der Suchtproblematik befasst. Wie erfolgreich dies ist, lässt sich schwer beurteilen.
Anstrengungen reichen nicht aus
Für Melchior gehen diese Anstrengungen nicht weit genug. "Ich denke, man setzt hier ein völlig falsches Zeichen. Es gibt so viele andere Unternehmen, die keine Sportwetten anbieten, mit denen man eine Partnerschaft eingehen könnte", sagt er. "Das Geld kommt von Menschen, die sehr leiden. Und das sind nicht nur die Süchtigen selbst. Schauen Sie mich an: Da bin nicht nur ich betroffen, sondern auch die Menschen in meinem Umfeld: meine Eltern, mein Bruder, meine Großeltern, viele Menschen, die betroffen sind, die mir mit Geld ausgeholfen haben, die sich große Sorgen machen."
Melchior will weiter aufklären, um die Beziehung zwischen Fußball, Glücksspiel und Sucht zu entwirren. Er ist der Meinung, dass die Wettanbieter viel mehr unternehmerische Verantwortung zeigen müssten, wenn es um die Schäden geht, die ihre Produkte und Werbeaktionen anrichten können. Er erzählt von einem britischen Wettanbieter, der ihn nach London flog, damit er dort das Spiel Chelsea gegen Liverpool sehen konnte, ihn in einem Hotel unterbrachte und ihm teure Geschenke schickte. Zu dieser Zeit verlor er auf der Website des Unternehmens etwa 10.000 Euro pro Monat.
Natürlich, sagt Melchior, sei er für sein Handeln letztlich selbst verantwortlich. Dennoch ist er tief besorgt über die Auswirkungen, die eine derart weit verbreitete Förderung von Sportwetten auf Kinder haben kann, die sich für Fußball oder Sport im Allgemeinen interessieren. Was einst als Zeitvertreib am Rande eines Spiels gestartet war, ist mittlerweile ein wesentlicher Bestandteil eines Milliardengeschäfts. Doch zu welchem Preis?
Aus dem Englischen adaptiert von Thomas Latschan.