Fotoserie: Schenkung ans Jüdische Museum
15. Februar 2022Sechs Millionen europäische Juden wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Wer den Holocaust überlebte, hatte Glück - oder Schutzengel, wie Rachel Oschitzki sie nennt. Bei ihr waren es: ein SS-Mann, der sie auf dem Weg zur Gaskammer des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz stoppte und zurückschickte. Eine ältere Mitinhaftierte namens Gabi, die ihr riet, sich als über 18-Jährige auszugeben, da die Jüngeren ins Krematorium geschickt wurden. Ein Arzt, der sie für eine Bewerbung in einer Fabrik zuließ, woraufhin sie Auschwitz verlassen konnte. Und ein Tscheche, der Rachel nach dem Krieg von einer Fahrt in einem russischen Lkw abhielt. Dieser hätte sie - wie sie später erfuhr - nach Sibirien gebracht.
Rachel Oschitzki, Jahrgang 1928, gehört zu den wenigen Menschen, die ihre Geschichte noch erzählen können. Sie ist eine der 25 Holocaust-Überlebenden, die der Fotograf Konrad Rufus Müller zusammen mit der österreichischen Journalistin Alexandra Föderl-Schmid besuchte und fotografierte. Förderl-Schmid arbeitete damals für die renommierte "Süddeutsche Zeitung" als Korrespondentin in Israel. Sie stellte den Kontakt zu den Holocaust-Überlebenden in Deutschland, Österreich und Israel her. So entstanden 41 Schwarz-Weiß-Fotografien, die Müller nun dem Jüdischen Museum Berlin schenkt.
Gesichter und Hände im Fokus
"Konrad Rufus Müller ist ein Meister der Porträtfotografie, das zeigt auch diese Serie", so Hetty Berg, Direktorin des Museums, in einer Pressemitteilung. "Die Fotografien nehmen vor allem die Gesichter und Hände in den Blick und versuchen, die Lebenserfahrung der Porträtierten nachzuspüren. Dadurch entsteht eine sehr dichte und beeindruckende Sammlung." Sie freue sich sehr, so Berg weiter, dass die Fotografien nun ins Museum kommen.
Konrad Rufus Müller wurde in Deutschland bekannt, weil er deutsche Bundeskanzler wie Konrad Adenauer, Willy Brandt oder Helmut Kohl fotografierte. Und das stets analog, mit einer Rolleiflex-Kamera ohne zusätzliche Beleuchtung - so arbeitet er bis heute.
Müllers Vater verweigerte Zusammenarbeit mit Nazis
Der inzwischen 82-Jährige hörte das erste Mal mit acht Jahren vom Holocaust, als sein Vater ihm das Buch "SS-Staat" schenkte. Ein Buch, "das wahrhaftig nicht für Kinder geeignet ist, sondern eigentlich für Erwachsene", sagt Müller im Gespräch mit der DW. Sein Vater arbeitete zur Zeit des Nationalsozialismus in einem Tuchladen in Berlin. Dieses wurde von einem Juden geführt, der 1938 emigrierte. "Die Nazis haben meinem Vater das Geschäft angeboten, und er hat es nicht angenommen", sagt Müller. "Dass mein Vater dieses Geschäft abgelehnt hat, fand ich schon mein ganzes Leben großartig. Das macht man nicht so ohne Weiteres - etwas ablehnen, was einen beruflich weiterbringen kann."
Die Idee zu dem Foto-Projekt kam ihm, als er einen Artikel der Journalistin Alexandra Föderl-Schmid über einen Holocaust-Überlebenden las. Daraufhin schrieb er ihr eine E-Mail. Die beiden beschlossen, gemeinsam auf Reise zu gehen, um Überlebende zu treffen. Daraus entstand das Buch "Unfassbare Wunder", das 2019 veröffentlicht wurde. "Alexandra hat eine Stunde mit diesen Menschen geredet, und ich habe mir in dieser Zeit einen Platz ausgesucht, wo ich denjenigen oder diejenige dann fotografisch porträtieren wollte", erzählte Müller der DW.
Manche Überlebende erzählten zum ersten Mal ihre Geschichte
Die Menschen seien nach diesen Gesprächen meistens "so kaputt und fertig" und emotional erschüttert gewesen, dass ihnen das mit der Fotografie völlig unwichtig geworden sei. "Und insofern sind ganz unverstellte und sehr authentische Porträts entstanden", so Müller. "Sie hatten ihr Innerstes nach außen gekehrt, sie waren ganz bei sich." Manche sprachen zum ersten Mal in ihrem Leben über ihre Holocaust-Vergangenheit.
Einige, wie Malwina Braun, redeten - wenn überhaupt - nur in Bruchstücken über ihre Holocaust-Erfahrungen. Braun, die inzwischen verstorben ist, lebte als Kind zwei Jahre im Krakauer Ghetto. Alle Juden mussten damals auf Anordnung der Nazis dorthin ziehen: Die Familie Braun teilte sich ihre Wohnung mit zwei weiteren Familien. Das Gebiet war mit Mauern und Stacheldraht abgeriegelt und wurde streng von der Schutzstaffel (SS), einer verbrecherischen nationalsozialistischen Organisation, bewacht. Als das Ghetto geräumt wurde, wurde die Familie Braun getrennt. Wo ihre Eltern und ihre Schwester umkamen, hat Malwina Braun nie erfahren. Sie selbst lebte bis zu ihrem Tod in Deutschland.
Hoffnungsort Israel
Andere Überlebende des Holocausts wanderten nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Sie ertrugen es nicht, sich im Land der Täter aufzuhalten. Der 1948 neu gegründete Staat Israel wurde für viele zum Hoffnungsort.
Auch für Manfred Rosenbaum, der Deutschland bereits 1946 verlassen hatte und sich in Israel ansiedelte. Als er 1957 das erste Mal wieder nach Deutschland kam, war das ein traumatisches Erlebnis. "Ich habe in einem normalen Schutzmann einen SS-Mann gesehen. Ich bin am selben Abend wieder abgereist, es war mir eine Erleichterung. Ich habe dann aber nachts nicht schlafen können. Ich habe überall Hakenkreuze gesehen", erzählt Rosenbaum im Buch "Unfassbare Wunder".
Fotografien erinnern an Holocaust-Schicksale
Andere, wie Arik Brauer, entschieden sich gegen eine Auswanderung. Brauer erlebte als Kind den "Anschluss" Österreichs an Deutschland, also den Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich im Jahr 1938 und die Eingliederung seiner Heimat in das nationalsozialistische Deutsche Reich. Eigentlich wollte er nach dem Krieg nach Palästina auswandern. Aber seine Mutter und sein Cousin Rudi Spitzer hielten ihn davon ab: "Rudi hat gesagt: 'Der Antisemitismus kann nur besiegt werden, wenn man hier dagegen kämpft'."
Auch Rudolf Gelbard machte sich den Kampf gegen den Faschismus und Antisemitismus zur Lebensaufgabe. Er prangerte bei seinen Auftritten Jahrzehnte lang die Freisprüche oder geringen Haftstrafen ehemaliger NS-Täter an.
Die Fotografien Konrad Rufus Müllers, auf denen Rudolf Gelbard und andere Holocaust-Überlebende abgebildet sind, sind nun Teil der Fotografischen Sammlung des Jüdischen Museum Berlin geworden. Obwohl derzeit noch keine Ausstellung mit den Fotografien geplant ist, ist Konrad Rufus Müller "unheimlich dankbar, dass das Museum meine Fotografien anerkennt". Er hofft, dass einzelne Bilder oder die komplette Serie in Zukunft für jedermann in einer Ausstellung zu sehen sein werden.
Die Porträts und Interviews mit den Holocaust-Überlebenden sind 2019 im Buch "Unfassbare Wunder" von Alexandra Föderl-Schmid und Konrad Rufus Müller im Böhlau-Verlag erschienen.